Kinder psychisch erkrankter Eltern

Wie in Mannheim Kindern von psychisch erkrankten Eltern geholfen wird

Von 
Eva Baumgartner
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Symbolbild. © Getty Images/iStockphoto

Mannheim. „Meine Mutter war sehr müde. Man hat es ihr angesehen. Sehr müde und sehr schlapp.“ „Mein Vater hört manchmal so komische Stimmen, die wir nicht hören.“ Kinder psychisch oder suchterkrankter Eltern sind mit ihren Problemen oft allein gelassen, viele fürchten gar, dass es ihre Schuld ist, dass mit Mama oder Papa „etwas nicht stimmt“.

Hilfsangebote für betroffene Erwachsene oder Kinder in solchen Fällen gibt es zwar: Einzel- oder Familienberatungen, Kindergruppen oder Programme, die sich gezielt an Betroffene richten. Doch lange hat diese Hilfe vor allem den Nachwuchs nicht erreicht. Weil Eltern sich schämen, keine Hilfe annehmen wollen. Oder weil die verschiedenen Angebote oft nicht vernetzt sind, teils gar nicht bekannt. Das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) hat mit „Stark im Sturm“ nun eine neue Initiative gegründet, die in diesen Fällen helfen will - und in den drei größten psychiatrischen und suchtmedizinischen Kliniken der Rhein-Neckar-Region Kinderbeauftragte etabliert hat, die auch als Lotsen für die Eltern fungieren.

Neben dem ZI in Mannheim ist auch die Klinik für Suchttherapie und Entwöhnung des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden in Wiesloch und die Klinik für Allgemeine Psychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg dabei: „Bisher hat jeder in seinem eigenen Mikrokosmos gearbeitet. Es wurde vor allem individuenorientiert gearbeitet. Herr X wurde behandelt und es konnte passieren, dass niemand fragt, wie es den Kindern im Haushalt und der ganzen Familie geht“, erklärt Yvonne Grimmer.

Stark im Sturm

  • Leiden Eltern unter einer psychischen oder Suchterkrankung, ist oft die ganze Familie betroffen. Die Initiative „Stark im Sturm“ will dabei helfen, die richtige Unterstützung für betroffene Eltern und Kinder zu finden. Kinderbeauftragte unterstützten deshalb vor Ort direkt auf den Stationen der psychiatrischen Krankenhäuser in der Rhein-Neckar-Region.
  • An der Kooperation beteiligt sind neben dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim auch die Klinik für Allgemeine Psychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg und die Klinik für Suchttherapie und Entwöhnung des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden in Wiesloch.
  • Die Dietmar Hopp Stiftung unterstützt Stark im Sturm finanziell, Hilfsangebote in der Rhein-Neckar-Region zu vernetzen und Kinderbeauftragte in den psychiatrischen Kliniken zu etablieren.
  • Informationen gibt es im Internet (www.starkimsturm.de). Hier finden Interessierte Hilfsangebote speziell für Kinder oder Erwachsene. Die Erklärungen sind dabei an die jeweilige Zielgruppe angepasst. Neben Hilfsangeboten in Mannheim und der Region sind auch bundesweite Hilfen, Online-Hilfen oder Notfallangebote aufgelistet. baum

Die Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am ZI hat die Initiative zusammen mit Anne Koopmann, Oberärztin an der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am ZI, aufgebaut. Das Problem hänge mit dem Gesundheitssystem zusammen und sei bundesweit vorhanden: „Wir brauchen eine familienzentrierte Behandlung, und die haben wir jetzt etabliert.“ Familien psychisch und suchterkrankter Angehöriger seien häufig sehr stark belastet und erhalten wenig Hilfe von außen oder schotten sich ab, sagen beide.

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Kinderbeauftrage helfen

Oft seien alleinerziehende Mütter oder Väter betroffen. Wenn dem Nachwuchs nicht geholfen werde, habe das weitreichende Folgen. „50 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die wir hier behandeln, haben psychisch oder suchterkrankte Eltern. Und diese Kinder haben ein bis zu achtfaches Risiko, selbst psychisch zu erkranken. Wir haben es mit einer Hochrisiko-Gruppe zu tun“, so Grimmer. Ursache hierfür seien die genetische Vorbelastung und das belastete Umfeld. „Eltern liegen im Bett, können nicht aufstehen, und die älteren Geschwister sorgen für die Jüngeren, übernehmen Verantwortung“, sagt Grimmer. Und fügt hinzu: „Wir müssen ihnen helfen, bevor sie selbst erkranken.“ Koopmann erklärt, dass den Kindern die Scham genommen werden müsse: „Es ist ihnen früh bewusst, dass bei ihnen etwas anders ist.“

Sie berichtet von einem Vater, der mit 4,6 Promille in die Notaufnahme gekommen sei. „Die Kinder haben ihren Vater während der Konsumphase wochenlang nur im Bett liegend erlebt“, so Koopmann. Hier setzt die Initiative an: „In der Anamnese des ganzen Hauses wird jetzt die Frage nach den Kindern als Pflichtfeld aufgenommen“, so Grimmer. Sogenannte Kinderbeauftragte kommen nun ins Spiel - die gibt es am ZI bereits seit zwei Jahren, und im Rahmen der Initiative nun auch in den Kliniken in Wiesloch und Heidelberg. Im Falle des Vaters mit 4,6 Promille sieht das so aus: „Wenn der Vater die Entgiftung hinter sich hat, kommt der Kinderbeauftragte und tritt noch während des stationären Aufenthaltes in Kontakt mit ihm.“

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Der Vater erhält Informationen, wie die weitere Behandlung aussehen kann, welche Möglichkeiten es gibt: „Es wird nicht gesagt, dass er da oder dort hingehen kann, sondern der Erstkontakt wird in der Klinik geknüpft, die Scham weg, Hürden abgebaut“, so Koopmann. „Wir haben festgestellt, dass die Beratung für die Patienten in unser Haus kommen muss, wenn die Patienten da sind. Schließlich könne die Motivation, in eine Therapie zu gehen, ganz schnell kippen: „Während jemand auf Station ist, ist er noch voller Elan. Die Dinge müssen auf der Station schon angelaufen sein, wenn ich sechs Wochen später einen Termin anbiete, ist das therapeutische Fenster vielleicht schon wieder zu“, so Koopmann.

ZI hat Projekt zwei Jahre getestet

Die Leiterinnen sind sich einig, dass zur Regelversorgung gehört, nicht nur einen Patienten zu behandeln, sondern die ganze Familie und zusätzlich Vernetzungsarbeit zu leisten: „Das findet nicht statt, weil es nicht vergütet wird, ist aber essenziell wichtig“, so Grimmer. Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern werde keine Behandlung finanziert. Solange sie nicht selbst erkrankt sind, sei das leider nicht vorgesehen.

So einfach das Konzept auf den ersten Blick aussieht, so viel steckt dahinter: „Es wird ein Vertrauen aufgebaut zu einer Pflegekraft oder Sozialarbeiterin, mit der ich zu tun habe, und die Patienten kommen wieder“, sagt Koopmann. „Und das ist in dieser Form einzigartig in Deutschland“, so Grimmer.

Zwei Jahre hat das ZI das Projekt getestet: „Und wir haben viel gelernt in dieser Zeit“, so Koopmann. Erste Erfolge gibt es bereits jetzt: „Die Quote der beratenen Väter hat sich erhöht, und auch Frauen und Mütter kommen eher in die Beratung“, sagt Koopmann.

Generell, erklärt sie, gebe es in der Suchttherapie mehr Männer: „Und bei ihnen ist die Hemmschwelle, sich helfen zu lassen, viel höher.“ Die Dietmar Hopp Stiftung unterstützt das Projekt finanziell bei der Arbeit, Hilfsangebote in der Region zu vernetzen und Kinderbeauftragte in den Kliniken zu etablieren. Für zwei Jahre sind 275 000 Euro vorgesehen, die in Mitarbeiterkosten und Material fließen – auch in Broschüren und Bücher, für die es normalerweise keinen Etat gibt. „Für Kinder gibt es da auch Notfallpläne, was sie machen können, wenn Mama oder Papa keine Kraft mehr haben. Im besten Fall wird mit Eltern und Kindern schon vorab gemeinsam besprochen, wer im Notfall aus dem näheren Umfeld die Familie unterstützen kann.

Pandemie hat Auswirkungen

„Das kann auch die Nachbarin sein, bei der das Kind mal mittags essen kann“, erklärt Grimmer. „Ziel ist es, das Ganze mit einer Studie zu begleiten, um herauszufinden, welche Auswirkungen das System der Kinderbeauftragten hat, beispielsweise auf Vermittlungsquoten“, so Koopmann.

Die Corona-Pandemie habe das Projekt im Aufbau enorm erschwert, berichten die Leiterinnen. Und auch die Arbeit mit erkrankten Menschen sei schwierig gewesen: „Doch es gibt auch seit Corona ein durchgehendes Beratungsangebot“, erklärt Grimmer. Dennoch habe die Pandemie bereits jetzt Nachwirkungen: Im Erwachsenenbereich sind die Zahlen so, dass wir deutlich längere Wartelisten haben als vor der Pandemie“, so Koopmann. „Dabei wissen wir noch nicht viel über die Auswirkungen der Pandemie. Unsere bisherigen Erkenntnisse kommen überwiegend aus Asien, diese beziehen sich auf die Quarantänen durch Hühner- oder Schweinegrippe. Dort haben die Menschen noch drei Jahre nach der Quarantäne Symptome von posttraumatischer Belastung oder Alkoholabhängigkeit“, so Koopmann.

Auch in Deutschland seien die Auswirkungen der Pandemie spürbar: „35 Prozent der Menschen sagen, dass sie häufiger Alkohol trinken. Wer vorher mehr als einmal pro Woche Alkohol getrunken hat oder sehr viel Stress durch die Pandemie hat, hat das höchste Risiko für eine Steigerung seines Alkohol- aber auch Tabak- Medien-, Glücksspielkonsums.“

Die Teilnehmer des Projektes erhoffen sich, dass es weitergeht und Vorbild sein kann. Keine leichte Aufgabe, da das Thema stark scham- und schuldbehaftet ist. „Aber jeder will schließlich eine gute Mutter oder ein guter Vater sein. Und es kann in Familien nur allen gut gehen, wenn alle eine Behandlung erfahren, die sie brauchen“, sagt Grimmer.

Redaktion Eva Baumgartner gehört zur Lokalredaktion Mannheim.

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