Sind Mütter oder Väter psychisch oder suchterkrankt, bricht für den Nachwuchs oft eine Welt zusammen: Die geliebten Bezugspersonen sind nicht mehr ansprechbar, und die Kleinen, die sich nach Wärme und Geborgenheit sehnen, werden emotional abgenabelt. Ältere Kinder müssen plötzlich den Haushalt koordinieren und jüngere Brüder oder Schwestern mitversorgen. Die eigenen Bedürfnisse, Hobbys, stehen hinten an: Treffen mit Freunden sind kaum noch zu bewerkstelligen, auch das Fußballtraining wird unerreichbar. Viele Kinder und Jugendliche haben zudem Schuldgefühle, glauben, dass sie für die Probleme von Vater oder Mutter verantwortlich sind. Nicht selten leidet auch die Schule darunter.
Zahlen mit Folgen
In Deutschland leben etwa fünf Millionen Kinder psychisch erkrankter oder suchterkrankter Eltern. Eine Zahl, die Folgen hat: Denn viele dieser Mädchen und Jungen werden ohne Hilfe in ihrem späteren Leben selbst eine psychische oder eine Suchterkrankung entwickeln. Und hier setzt die Initiative „Stark im Sturm“ an: Die drei größten psychiatrischen und suchtmedizinischen Kliniken der Region arbeiten zusammen, sie etablieren mit Unterstützung der Dietmar Hopp Stiftung Kinderbeauftragte auf den Stationen. So fällt der Nachwuchs nicht wie bisher durch das Raster eines chronisch kranken Sozialsystems, Spätfolgen lassen sich auffangen oder verhindern.
Bisher ist eine solche Zusammenarbeit in Deutschland einmalig. Und psychische Probleme in unserer Gesellschaft leider noch immer ein Tabuthema: Über sie wird selten gesprochen, aber viel geschwiegen. Es gibt Vorurteile, Angst, den erkrankten Menschen zu begegnen. Dabei entsteht diese Angst oft aus Unwissenheit, Hilflosigkeit. Mit der Initiative, die von Mannheim aus geleitet wird, gehen die drei Kliniken deshalb einen wichtigen Schritt, sind hoffentlich Vorbild für viele weitere.
Corona verstärkt Probleme
Corona hat psychische Erkrankungen verstärkt. Die Gesellschaft hat die Folgen der Pandemie auf die seelische Gesundheit unterschätzt, hat vergessen, den Mensch als soziales Wesen zu sehen, der an einer Isolation leidet. Wir alle sind deshalb jetzt erst recht gefragt, das Thema aus dem Schatten ins Licht zu holen: Lehrerinnen und Erzieher, Nachbarn oder Verwandte können für den Nachwuchs wichtige Ansprechpartner sein, ihr Interesse signalisieren, aus tiefstem Herzen fragen: „Wie geht es Dir eigentlich?“ Auch die Schulsozialarbeit, die schon viel zu lange auf ihren Ausbau wartet, muss Möglichkeiten haben, hier anzusetzen.
Finanzielle Grundlage
Niemand ist für psychische Erkrankungen verantwortlich. Doch weil die Probleme nicht selten an die nächste Generation weitergegeben werden, ist frühe Hilfe hier extrem wichtig. Das Pilotprojekt ist deshalb ohne Frage ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Doch es muss auch nach dem befristeten Förder-Zeitraum weitergehen, eine finanzielle Grundlage dafür geben, dass Kinder eine Chance haben. Wie beispielsweise in Norwegen: Hier sind Kinderbeauftragte sogar gesetzlich festgelegt. Wer nicht schon jetzt an die Kinder denkt, der verliert bei der Behandlung der erkrankten Erwachsenen ganze Familien, die auf der Strecke bleiben.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Familien bleiben auf der Strecke