Geschichte

Wie falsche Behauptungen die Ausschreitungen auf der Schönau anheizten

Historiker und Zeitzeugen diskutierten auf einer Tagung im Marchivum über die rassistischen Ausschreitungen von 1992 im Mannheimer Stadtteil Schönau. Warum die Ereignisse vor 31 Jahren auch heute noch relevant sind

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Das Podium (v.l.) Moderation Wolfgang Nieß, André Neu, Peter Kurz, Hermann Rütermann und Knut Feldmann bei der Podiumsdiskussion. © Michael Ruffler

Mannheim. „Pogrom, pogromartiger Vorfall oder Krawall“: Welcher Begriff trifft für die rassistischen Ausschreitungen von 1992 im Mannheimer Stadtteil Schönau zu? Und wie sind damalige Attacken gegen Flüchtlinge und Asylbewerber, die in der alten Gendarmeriekaserne untergebracht waren, „im Kontext rechter Gewalt“ einzuordnen? Antworten auf Fragen wie diese sucht im Marchivum eine Tagung samt Zeitzeugen-Gespräch. Auch wenn Historiker und Soziologen unterschiedliche Positionen vertreten, so sind sie sich einig: „Schönau 1992 darf nicht vergessen werden!“

„Die Ereignisse sind keineswegs erloschen, ja sie dampfen noch“, erklärt Philipp Gassert. Der Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim fasst zum Tagungsende die Botschaften der Vorträge und Debatten zusammen. Als ein Fazit führt er aus: Vokabeln wie Krawalle oder Ausschreitungen „machen zu klein“, was sich vor drei Jahrzehnten abgespielt hat.

Die Sicht der Betroffenen ist in der Wahrnehmung eine „Blindstelle“

Vielmehr treffe der Begriff Pogrom zu - auch wenn auf der Schönau keine staatlich orchestrierte Gewalt den Mob befeuerte, wie dies beispielsweise in der von den Nazis gesteuerten Reichspogromnacht 1938 der Fall war. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung, so Gassert, habe außerdem offenbart: Die Sicht der Betroffenen - und damit jener traumatisierten Menschen, die vor ihrer Sammelunterkunft beschimpft und bedroht wurden - ist in der Wahrnehmung weitgehend „eine Blindstelle“ geblieben.

Dies soll eigentlich die von Historiker Wolfgang Nieß moderierte Diskussion mit Zeitzeugen ändern - es bleibt aber ein Stuhl leer. Jener ehemalige Bewohner der Flüchtlingsunterkunft, der mit Familie dem Jugoslawienkrieg entronnen war, hat zwar sein Kommen zugesagt, sagte aber aus Jobgründen kurzfristig ab.

An den Tagen nach dem Vorfall war die Polizei stark vor der Asylbewerberunterkunft präsent. Dieses Bild erschien am 5. Juni 1992 im „MM“. © Walter Neusch

Die vier verbliebenen Diskutanten berichteten aus unterschiedlichen Perspektiven: Peter Kurz, damals noch nicht Oberbürgermeister (bis Juli 2023), sondern Stadtrat, erinnert sich gut an seinen zunächst „abwehrenden Reflex“, weil er die Nachricht von den Ausschreitungen überhaupt nicht mit seinem Bild von Mannheim als offene Migranten-Stadt in Einklang zu bringen vermochte. „Es braut sich etwas zusammen“ - viel mehr wusste der damalige Polizeipräsident Knut Feldmann nicht, als er an Christi Himmelfahrt von zu Hause im Privatauto zu der als Flüchtlingsunterkunft dienenden Kaserne fuhr und dort „eine sehr emotionale Menge“ entdeckte.

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„Erst habe ich gar nicht glauben können, dass sich Leute mit Dachlatten zusammenrotten“, blickt Hermann Rütermann zurück, der 1992 als katholischer Pastoralreferent im Stadtteil tätig war. „Eine krasse Stimmung“ auf der Straße und „paralysierte Flüchtlinge“, von denen einige aus Angst aus der Kaserne flohen, haben sich bei dem Aktivisten André Neu eingeprägt.

Unsägliches Gerücht könnte Eskalation maßgeblich befeuert haben

Aber was beflügelte neben reichlich am „Vatertag“ und beim Siedlerfest konsumiertem Alkohol die Randale? Rütermann mutmaßt: Ohne das unsägliche Gerücht - „und das verbreitete sich in Windeseile“ - wäre der Unmut über die mit Flüchtlingen belegte Kaserne, die Vereine hatten nutzen wollen, nicht derart eskaliert.

Der Theologe erinnert sich noch gut an die wabernde Behauptung, ein Afrikaner habe eine 16-Jährige vergewaltigt - was die Parole befeuerte: Wenn Stadt und Polizei nichts unternehmen, müssen wir Schönauer dies selbst in die Hand nehmen! Erst später sollte sich herausstellen, dass jener US-Soldat, den die Jugendliche wegen sexueller Gewalt angezeigt hatte, sich bei seiner Festnahme als ein Bewohner der Sammelunterkunft ausgegeben hatte.

Aber wer setzte damals warum das Gerücht zur Stimmungsmache in die Welt? „Auf jeden Fall war es keine organisierte rechte Szene“, zeigt sich Knut Feldmann überzeugt.

Absprachen der Polizei mit dem Rathaus?

Beim Podiumsgespräch blitzt die Frage auf: Hat die strategische Entscheidung, möglichst zu deeskalieren, nicht von Nazis zu sprechen und die Ereignisse politisch tief zu hängen, dazu geführt, dass die tagelangen Krawalle damals und auch danach verharmlost wurden? Neu wie Rütermann gehen davon aus, dass es zwischen Polizei und Rathaus Absprachen gab, Festnahmen später nicht in Anklagen münden zu lassen.

„Davon ist mir nichts bekannt“, erklärt der einstige Polizeipräsident Feldmann und auch der seinerzeitige Stadtrat und spätere OB Kurz hält solcherart Vereinbarungen für „undenkbar“. Gleichwohl, so Kurz, sei heutzutage manches kaum noch vorstellbar. Beispielsweise dass sich sein Vorgänger Gerhard Widder als Oberbürgermeister mitten in den Mob wagte und diesen zum Rückzug aufforderte.

Buch zu den Ereignissen soll Hintergründe beleuchten

Auch wenn die Sicht der Ereignisse unterschiedlich ausfällt, so stimmen die Zeitzeugen überein: Sozialer Frust in einem sich benachteiligt fühlenden Stadtteil habe vor 31 Jahren zu einer beschwichtigenden Rechtfertigung geführt. Und unisono sind die vier Diskutanten der Meinung: Schönau 1992 darf nicht vergessen und muss obendrein aufgearbeitet werden. Peter Kurz, der die Tagung noch als OB mit angestoßen hat, sieht die seinerzeitigen Ausschreitungen als herausfordernde „Chiffre für Fremdenfeindlichkeit, die es immer wieder gab und noch gibt“.

Wie der für Marchivum-Ausstellungen verantwortliche Historiker Christian Groh ankündigt, will das Haus der Stadtgeschichte und Erinnerung einen umfassenden Tagungsband herausgeben - als Beitrag zum Ausleuchten des Pogroms, insbesondere der vielen Leerstellen.

Freie Autorin

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