Mannheim. Solche Sicherheitsvorkehrung kannte die Ersatzspielstätte des Nationaltheaters noch nicht. Während draußen über der ehemaligen Schildkrötfabrik in Neckarau Polizei und Drohnen alles im Blick haben, verhalten sich drinnen unzählige Männer in schwarzen Anzügen mit Knopf im Ohr unauffällig. Wer am Donnerstagabend zum „MM“-KanzlerGespräch mit Olaf Scholz will, muss sich am Eingang der Halle einen intensiven Check vom Sicherheitsdienst gefallen lassen.

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Extra die Probe geschwänzt
„Das habe ich an noch keinem Flughafen erlebt“, sagt ein Besucher. Würde in Fußballstadien so kontrolliert werden, gäbe es keine Fan-Choreografien mit Pyrotechnik mehr: Jacken ablegen, Gürtel ausziehen, Taschen leeren. Alles wird gescannt, jeder einzelne Besucher und jede einzelne Besucherin intensiv abgetastet und mit Metalldetektoren abgesucht. „Das muss man wohl in Kauf nehmen, wenn man dem Kanzler eine Frage stellen will“, sagt ein Mann, der kurz vor 17 Uhr die alte Fabrikhalle betritt. Er nimmt es gut gelaunt in Kauf, die anderen 150 Menschen, die sich ihre Teilnahme an dem Event über den „MM“ gesichert hatten, nehmen es klaglos hin.
Erika Keller zum Beispiel. Aber nicht nur das. Die 72-Jährige hat am Donnerstagabend extra die Singstunde ihrer Sängereinheit Edingen geschwänzt - und das als Vorsitzende des Gesangvereins. „Da brauche ich natürlich einen guten Grund, wenn ich nicht in die Probe komme“, sagt sie. Olaf Scholz, sagt Keller hinterher, ist so ein Grund. Also hat es sich auch für sie gelohnt? „Mir hat der Abend sehr gut gefallen.“ Und der Bundeskanzler selbst? „Sehr sympathisch. Er kam rüber, wie man ihn aus dem Fernsehen kennt.“
Gut zwei Stunden vorher war die Spannung fast greifbar. Moderatorin Nicole Köster - vor allem aus der SWR1-Talkshow „Leute“ bekannt - schweigt, Gespräche verstummen, fünf Minuten später betritt Olaf Scholz ohne Anmoderation fast unscheinbar den Raum. Applaus beendet die erwartungsvolle Ruhe. Ziemlich wohlgesonnen treten die meisten Gäste dem SPD-Politiker gegenüber, bedanken sich für die Chance, eine Frage stellen zu können.
Proteste vor und in der Halle
Von Protesten vor der ehemaligen Fabrik bekommt der Bundeskanzler nichts mit. Am Eingang zur Halle entrollen etwa 15 Aktivistinnen und Aktivisten der Interventionistischen Linken Rhein-Neckar ein Banner mit der Aufschrift „Rassismus tötet! Bleiberecht statt Abschiebung“ und prangern mit lautstarken Parolen die Migrationspolitik der Ampel-Regierung an. Auch Mannheims Junge Union kritisiert die rot-grün-gelbe Koalition mit Plakaten, die rund um die Schildkrötfabrik hängen.
„Ich bin sehr beeindruckt“
Doch auch in der Fragerunde kommt das Ampel-Thema auf: Ein älterer Mann in rotem Pulli zeigt sich unzufrieden mit Teilen des Kabinetts, schimpft vor allem über Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck. Manche im Saal raunen, andere applaudieren - und Scholz kanzelt den Mann ab. Bei einer Brezel nach der Veranstaltung hat sich der Fragesteller längst beruhigt. „Das brannte mir einfach unter den Nägeln“, erzählt Karl Manhart. Abgewatscht fühle er sich vom Kanzler nicht, aber: „Er ist gar nicht auf den Kern meiner Frage eingegangen“, kritisiert der 84-Jährige von der Vogelstang.
Teflon-Scholz, an dem sämtliche Kritik einfach abprallt, also? Dass er auf viele Fragen ausweichend antwortet, stellen einige fest. Aber viele sind auch zufrieden mit den Antworten des Bundeskanzlers. „Ich war sehr beeindruckt“, konstatiert Jürgen Böhm. „Das, was er gesagt hat, war gut. Ich fand es sogar sehr gut.“ Der Mann aus Friedrichsfeld bescheinigt dem Kanzler authentisch gewesen zu sein und keine Frage in den 90 Minuten ins Lächerliche gezogen zu haben. Er selbst wäre gern eine Frage zum Thema Energiewende, Kohleausstieg und Heizungsgesetz losgeworden, verrät der 62-Jährige, der seit 30 Jahren im mittlerweile stillgelegten Kernkraftwerk in Biblis arbeitet. „Das habe ich vermisst“, so Böhm.
Deutlich härter geht Daniel Jobke mit dem Bundeskanzler ins Gericht. Dem 21-Jährigen kam in der Fragerunde das Thema Migration deutlich zu kurz. Er hätte Scholz gern mit dessen Aussagen konfrontiert, Deutschland müsse „endlich im großen Stil abschieben“. Jobke bezeichnet das als populistisch. „Das schürt Ressentiments. Und ich finde es schwierig, so viel Komplexität auf einen kleinen Punkt zu vereinfachen“, erklärt der Student der Elementaren Musikpädagogik. „Eigentlich bin ich solche Formulierungen von anderen Parteien gewöhnt.“
Dass er von Olaf Scholz beeindruckt ist, gibt ein paar Stehtische weiter noch ein anderer Friedrichsfelder zu: Dirk Mehl lobt die rhetorische Qualität des Spitzenpolitikers aus Hamburg. „Ich fand es interessant, dass er bei der Breite der Fragestellungen zumindest den Eindruck gemacht hat, dass er über alles gut Bescheid weiß“, sagt der 65-Jährige. Manche Fragen, so Mehl weiter, habe Scholz sogar tiefer beantwortet, als das in den Medien rüberkommt. Mit Blick auf all die Krisenherde in der Welt hätte er Scholz gern gefragt, ob er eine Dienstpflicht für notwendig erachtet, um mehr Soldatinnen und Soldaten für die Bundeswehr zu rekrutieren.
Posieren ohne große Regungen
Gegen 20.45 Uhr ist es merklich leerer in der Alten Schildkrötfabrik, die Beleuchtung und die Sicherheitsschleusen am Eingang werden abgebaut. Der Bundeskanzler hat das Gebäude da schon verlassen. Bis kurz vorher stand er noch gut eine Dreiviertelstunde für Selfies mit jedem einzelnen Gast bereit, ohne seine Pose oder seine Mimik merklich zu verändern - da war er wieder, der Scholzomat. Auch Erika Keller hat ein Foto mit ihm gemacht. Als Beweis für ihre Singfreunde in Edingen, dass sie nur für den Regierungschef die Probe hat ausfallen lassen. Das hat sie Scholz beim Selfie auch gesagt. Seine Antwort: „Das ist aber nett von ihnen.“
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