Mannheim. Eigentlich sollte es jetzt losgehen. Aber am Samstag um 15 Uhr ist der Plankenkopf noch ziemlich verwaist. Keine Hundert haben sich zur Kundgebung gegen Polizeigewalt eingefunden. Schnell macht jedoch die Runde, dass viele Menschen irrtümlich am Marktplatz stehen. Auf dem war der Protest gegen den Einsatz, bei dem eine Woche zuvor der 49-jährige Ertekin Ö. auf der Schönau von einem Polizisten erschossen wurde, zunächst geplant. Doch weil dort zwei Stunden später eine Demonstration gegen den Gazakrieg angemeldet ist, muss an den Plankenkopf ausgewichen werden.
Nach und nach füllt es sich dann auch hier. Die Polizei, die sich bei der Mahnwache für den Getöteten auf der Schönau aus Pietätsgründen sehr im Hintergrund gehalten hatte, ist diesmal mit drei Mannschafts- und zwei weiteren Einsatzwagen präsent. Sie stehen gegenüber neben dem FutuRaum-Container.
Teilnehmerzahl schwer schätzbar
Eine Polizeisprecherin beziffert auf Anfrage die Teilnehmerzahl mit 180 bis 200. Die lasse sich wegen der vielen vorbeilaufenden Passanten am Anfang der Fußgängerzone allerdings schwer schätzen. Die Organisatoren der Kundgebung sprechen von 250 bis 300 Menschen. Andere Anwesende meinen, es könnten sogar noch deutlich mehr sein.
Auf einem Transparent steht: „Er hätte Ansprache gebraucht - keine Kugeln! Diese Polizisten dürfen nie mehr auf die Straße! Psychische Krankheiten bedürfen Behandlung, nicht den Tod!“ Auf anderen Plakaten ist etwa zu lesen: „Polizei Mannheim, was ist mit Euch?“ Oder: „Wie viele Einzelfälle denn noch?“
Aufgerufen zur Kundgebung hat die Initiative 2. Mai. Die wurde gegründet, nachdem an jenem Tag vor einem Jahr auf dem Marktplatz ein psychisch Kranker starb, nachdem ihn zwei Polizisten auf dem Boden fixiert hatten und er mit der Faust mehrfach geschlagen worden war. Dafür stehen die beiden ab 12. Januar vor dem Landgericht.
Die ersten Redner beklagen, die Polizei habe ihnen mit einem Einschreiten gedroht, wenn dieses oder jenes am Mikrofon gesagt werde. Das verletzte die Meinungsfreiheit. Dazu heißt es von der Polizeisprecherin, man habe den Veranstaltern nur deutlich gemacht, dass Straftaten - dazu zählen auch Beleidigungen - nicht hingenommen würden.
Es bleibt allerdings alles ruhig und friedlich. Die einzigen potenziell gefährlichen Momente entstehen, wenn Straßenbahnen direkt im Rücken der Demonstranten um die Kurve kommen. Ordner passen auf, dass nichts passiert, ebenso die Beamten auf der anderen Straßenseite.
Die Redebeiträge sind in etwa die gleichen wie bei der Mahnwache auf der Schönau. Emrah Durkal spricht wieder im Namen der Nachbarschaft und als Freund der Familie. Sie seien unverändert schockiert, dass vier Mal auf einen hilfsbedürftigen, psychisch kranken Mann geschossen worden. Seine Kritik gelte aber nicht nur der Polizei, sondern auch dem Stuttgarter Innenminister Thomas Strobl. Weil dieser baden-württembergische Polizisten unverändert nicht mit Elektro-Teasern ausstatten wolle, hätten sie zwischen Schlagstock und Schusswaffe kein mittleres Mittel, klagt Durkal.
Wieso kein Warnschuss?
Unterhält man sich mit Teilnehmern der Kundgebung, äußert zwar mancher auch Verständnis dafür, dass der mit einem Messer und entblößtem Oberkörper auf die Beamten zugehende Ertekin Ö. bedrohlich gewirkt habe. Aber es herrscht Unverständnis, wieso nicht erst ein Warnschuss abgegeben oder auf die Beine geschossen wurde, sondern gleich vier Mal auf den Brustbereich.
Als einziger Lokalpolitiker hält LI.PAR.Tie-Fraktionschef Dennis Ulas eine Rede. Der bedauert, dass Angehörige und Nachbarn von der Polizei daran gehindert worden seien, den Mann zu beruhigen. „Bei einem angemessenen Umgang hätte Ertekin Ö. noch leben können.“
Aus dem Gemeinderat sind auch der Grüne Gerhard Fontagnier und die Linke Nalan Erol zu sehen. Die politisch Ranghöchste ist die SPD-Bundestagsabgeordnete Isabel Cademartori. Sie sagt dem „MM“, sie sei vor allem gekommen, um der Familie des Getöteten ihr Mitgefühl zu zeigen. Außerdem wolle sie hören, was die Menschen hier bewege, um für Verständigung zu sorgen. Ihre Linken-Kollegin Gökay Akbulut musste laut Ulas in Berlin bleiben. In einer Pressemitteilung wird sie mit den Worten zitiert: „Es ist kaum zu ertragen, dass schon wieder ein Polizeieinsatz in Mannheim einen Menschen das Leben gekostet hat.“
Türkische Journalisten sind gekommen
Auch türkische Journalisten sind wieder einige da, Ertekin Ö. hatte ihre Staatsbürgerschaft. Vorwürfe, dass dies eine Rolle gespielt haben könnte, gibt es diesmal - anders als bei der Mahnwache - aber nur am Rande. So steht auf einem Plakat: „Im Gedenken an alle Opfer rechter und rassistischer (Polizei-) Gewalt.“
Dass es hier indes nicht nur um eine spezielle Mannheimer Thematik geht, wird in vielen Redebeiträgen deutlich. Unter anderem im verlesenen Grußwort einer Frau, deren Sohn vor drei Jahren in Amsterdam ebenfalls von Polizeikugeln getötet wurde. Daran erinnerten sie nun sehr die schrecklichen Handyvideos, die sie von Ertekin Ö. gesehen habe.
Am Schluss der rund einstündigen Kundgebung weist Durkal nochmal darauf hin, dass die Beisetzung am Dienstag um 13 Uhr auf dem muslimischen Gräberfeld auf dem Hauptfriedhof stattfinde. Und dass sich die Familie auch da eine große öffentliche Teilnahme wünsche.
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