Mannheim. Frau Bannenberg, die Tat von Mannheim hat viele Menschen erschüttert. Welche Gedanken sind Ihnen als Kriminologin als erstes durch den Kopf gegangen, als Sie von dem Vorfall gehört haben, ohne bereits Hintergründe zu kennen?
Britta Bannenberg : Ich habe daran gedacht, dass die Tat eine Serie fortsetzt. Wenn man die Ereignisse nach dem Messerattentat von Mannheim 2024 beobachtet, sieht man Taten, die Nachahmungseffekte aufweisen. Nach Mannheim gab es die Messerattacke in Solingen. Wir hatten dann Magdeburg, Aschaffenburg, München und nun wieder Mannheim. Alle Taten wurden von Einzeltätern verübt, teilweise mit einer ideologischen Motivation islamistischer Prägung, teilweise ohne. Die Taten haben durch ihre enorme Medienwirkung Nachahmungseffekte provoziert. Personen, die bereits selbst an eine solche Tat gedacht haben, wurden angeregt, ebenfalls zu handeln. Letztlich spielt es keine Rolle, ob ein Amoktäter, der eine Mehrfachtötung ohne ideologische Motivation ausübt, von der Tat eines Islamisten oder eines anderen Extremisten getriggert wird, oder umgekehrt. Er wird allein durch die Berichterstattung schon animiert.
In diesen Fällen besteht ein starkes öffentliches Interesse, das Medien bedienen müssen. Wenn Sie sagen, dass Berichterstattung womöglich Nachahmungstaten provoziert, bewegen sich Medien in einem großen Spannungsfeld. Wie können Medien berichten, um dieses Spannungsfeld kleinzuhalten?
Bannenberg : Dieses Spannungsfeld lässt sich nicht auflösen. Das Perfide ist, dass Täter auf eine hohe Öffentlichkeitswirkung abzielen. Es liegt in der Natur von Amokläufen und Anschlägen, die Öffentlichkeit zu schockieren und Angst und Schrecken zu verbreiten. Der Einzeltäter will sich als großartig darstellen und gleichzeitig seinen Hass auf die Gesellschaft ausdrücken. Medien müssen berichten. Das sind Ereignisse, bei denen es ein hohes öffentliches Interesse gibt. Gerade deshalb ist eine sachliche Berichterstattung notwendig, was im Fall Mannheim aber auch nicht das Problem war. Vor zehn Jahren konnte man Boulevardmedien beobachten, die sich darin überschlagen haben, Täter darzustellen und mit Spekulationen Falschmeldungen vielleicht sogar provoziert haben. Das hat sich in den letzten Jahren gemäßigt.
Falschnachrichten hat es auch in den Stunden nach der Tat von Mannheim Anfang März gegeben. Aber wahrscheinlich tragen da dann vor allem sozialen Medien Schuld, oder?
Bannenberg : Falschnachrichten auf sozialen Medien sind relativ neue Phänomene. Das betrifft vor allem Privatleute. Das kann man kaum verhindern.
Renommierte Kriminologin
- Die Kriminologin und Rechtswissenschaftlerin Britta Bannenberg wurde im Mai 1964 im nordhessischen Volkmarsen geboren. Sie habilitierte sich 2001 mit einer kriminologisch-strafrechtlichen Analyse über Korruption in Deutschland und ihre strafrechtliche Kontrolle.
- Zwischen 2002 und 2008 lehrte Bannenberg als Professorin für Kriminologie, Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Universität Bielefeld. Seit 2008 ist sie als Professorin für Kriminologie an der Universität Gießen tätig.
- Bannenberg beschäftigt sich in ihrer Forschung unter anderem mit Amok , Terror und Kriminalprävention . Sie gilt bundesweit als eine der führenden Forscherinnen auf diesen Gebieten. seko
Lassen Sie uns weniger über die Berichterstattung und mehr über die Tat an sich sprechen. Wir haben in Mannheim einen Mann, der psychisch labil ist und Verbindungen ins rechtsextreme Milieu hatte. Behörden haben recht schnell ein psychisches Motiv für wahrscheinlich erklärt und für ein politisches keine konkreten Hinweise gefunden. Das ist auch der derzeitige Ermittlungsstand. Die eigentliche Frage hinter in diesem Fall, die viele Menschen bewegt, ist doch aber: Kann ein psychisch labiler Rechtsextremist eine solche Tat begehen, ohne dass die einen politischen Hintergrund hat?
Bannenberg : Die empirische Forschungslage zu Amoktaten und zu terroristischen Einzeltätern zeigt, dass mehr oder weniger alle Täter psychische Störungen haben und manche sogar schwere psychische Erkrankungen aufweisen. Nach bisherigen Erkenntnissen muss man auch beim Fahrer von Mannheim davon ausgehen, dass er psychisch schwerwiegend erkrankt ist. Das erklärt grundsätzlich Ursachen, warum ein Täter eine solche Tat begeht. Es schließt aber nicht aus, dass ein psychisch kranker oder gestörter Täter zusätzlich extremistische Motive haben kann. Inwieweit beim Mannheimer Täter zusätzlich rechtsextremistische Motivationen mitschwingen, wird derzeit ermittelt.
Rechnen Sie mit einer solchen zusätzlichen Motivation?
Bannenberg : Das würde mich zumindest nicht überraschen, weil wir diese Mischung häufig erleben. Personen, die psychisch gestört sind und eine Mehrfachtötung begehen wollen, befassen sich sehr lange mit Hass- und Tötungsfantasien. Sie sind in Foren auf entsprechenden Seiten aktiv, kommen auf diese Weise mit extremistischen Inhalten in Kontakt und befürworten diese mindestens zum Teil. Was sie von anderen Extremisten unterscheidet, ist, dass sie nie in Gruppen eingebunden sind und dass sie sich durch den Konsum sozialer Medien oft selbst radikalisieren. Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn extremistische Motive zusätzlich vorhanden sind. Das eine schließt das andere nicht aus. Das ist aber natürlich auch nicht gesetzt, sondern vom Einzelfall abhängig.
Der festgenommene Alexander S. war in einer Gruppe aktiv: Zumindest pflegte er eine Zeit lang Kontakt zu einer, laut Ermittlern, vergleichsweise kleinen, regionalen Gruppe in Bayern, die von Reichsbürgern und Neonazis geführt wird. Derzeit wird geprüft, wie intensiv er in die Strukturen tatsächlich involviert gewesen ist.
Bannenberg : Da muss man die Ermittlungsergebnisse abwarten.
Wie häufig überschneiden sich psychische Krisen mit extremistischer Radikalisierung?
Bannenberg : Ich würde die Frage anders beantworten: Mehrfachtötungen sind insgesamt sehr selten – egal ob ohne ideologische Richtung, also klassische Amoktaten, oder bei terroristischen Einzeltätern. Bei Einzeltätern, die eine Mehrfachtötung planen, liegt in der Regel eine psychische Störung vor, oft mit jahrelangen Hass- und Tötungsfantasien. Wenn es dann tatsächlich zur Tat kommt, spielt in etwa der Hälfte der Fälle auch extremistisches Gedankengut eine Rolle. Aber wichtig ist: Nicht jede psychische Störung führt zu einer Gewalttat. Es sind meist spezifische Persönlichkeitsstörungen, häufig mit einem paranoiden Anteil. Bei einem Drittel der erwachsenen Amoktäter liegt eine paranoide Schizophrenie vor. Und selbst diese wird erst gefährlich für andere, wenn Betroffene zusätzlich Gewalt- oder Tötungsfantasien entwickeln.
Welche Möglichkeiten haben Behörden, eine solche Gefahr frühzeitig zu erkennen und Taten unwahrscheinlicher zu machen? Gänzlich ausschließen kann man sie ja wohl nie.
Bannenberg : Es gibt Möglichkeiten der Prävention. Das Besondere an diesen Taten ist, dass Täter oft monatelang Andeutungen machen. Sie bewerten ähnliche Taten positiv, hegen Sympathien für diese und deuten oft an, selbst etwas in diese Richtung zu planen. Sie nehmen Bezug auf eine Tat, indem sie sagen: ,Sowas wie in München könnte auch hier passieren.‘ Oder dass es Zeit wird, dass einige sterben, damit ihr aufwacht. Sie wiederholen Andeutungen wie diese immer wieder. Das heißt, dass für die Prävention im Sinne der Gefahrenabwehr nicht nur Behörden auf Warnsignale achten müssen, sondern jedermann. Oft beschäftigen sich Personen offen mit der Planung, sind Einzelgänger ohne wirkliche Bindungen, wenig Empathie, narzisstischer Persönlichkeit, weisen eine hohe Unzufriedenheit auf und interessieren sich für Amoktaten und Anschläge.
Die Tötung ist ein Zeichen tiefster Verachtung für Mitmenschen.
Es gibt viele Menschen mit extremen Ansichten. Nicht jeder Extremist begeht aber auch eine solche schreckliche Tat. Was bringt Menschen dazu, möglichst viele Menschen zu töten?
Bannenberg : Menschen, die solche Taten planen, sind in hohem Maße mit ihrem Leben unzufrieden, haben keine Ziele, keine Pläne. Sie sehen sich als gescheitert an, machen dafür aber nicht sich selbst, sondern die Gesellschaft verantwortlich. Deshalb kommen sie auf die Idee, dass alle bestraft werden müssen. Die Tötung ist ein Zeichen tiefster Verachtung für Mitmenschen und hat mit psychischen Störungen zu tun. Warnsignale sind deshalb nicht nur irgendwelche extremistischen oder wütenden Äußerungen. Im Gegenteil. Die Personen sind häufig sehr ruhig, wenig emotional und eben nicht impulsiv. Sie lassen aber erkennen, dass sie einen Anschlag gutheißen. Das Besondere sind Tötungsfantasien, die in Richtung eines Anschlags geäußert werden. Diese Warnsignale muss man ernst nehmen.
Ob das alles auf Alexander S. zutrifft, ist öffentlich, wenn überhaupt, nur teilweise bekannt und wahrscheinlich Gegenstand von Ermittlungen. Ziehen extremistische Ideologien gezielt psychisch labile Menschen an?
Bannenberg : Das kann man so pauschal nicht sagen. Der Begriff „psychisch labil“ ist kein Fachbegriff und umfasst ein weites Feld. Umgekehrt kann man aber sagen, dass Amoktäter und extremistische oder terroristische Einzeltäter sehr oft sehr spezifische psychische Störungsbilder oder Erkrankungen im Sinne der paranoiden Schizophrenie aufweisen. Die sind für solche Ideologien empfänglicher. Das aber pauschal auf alle psychischen Störungen anzuwenden, wäre ein falscher Schluss.
Welche Rolle spielen soziale Medien in diesem Zusammenhang?
Bannenberg : Einzelgänger, wie sie typisch für diese Taten sind, bewegen sich kaum in sozialen Beziehungen. Sie sind im Internet und suchen dort gezielt Inhalte, die Hass, Gewalt und Tötungsdelikte thematisieren. Dadurch finden sie in sozialen Medien Bestätigung und Menschen, die auch an eine solche Tat denken.
Gibt es für Staat und Behörden überhaupt Mittel, die diese Spirale im Einzelfall durchbrechen können? Oder ist man dagegen im Grunde genommen machtlos?
Bannenberg : Polizeibehörden können bei der Prävention besser werden. Es tut sich etwas, indem mehr spezialisierte Stellen geschaffen werden, um spezifische Gefahren zu prüfen. Man darf aber nicht nur auf die Polizei schauen. Es geht auch um eine verbesserte Ausstattung von Psychiatrien, die diese auch für sie eher selteneren Fälle besser abklären müssen. Und am Ende geht es auch um die Justiz, weil im Kontext der Prävention verschiedene rechtliche Bereiche betroffen sind, wie die Unterbringungen nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz oder auch strafprozessuale Maßnahmen. Es muss sich in Deutschland etwas verbessern, damit die Gefahr für die relativ seltenen Fälle mit furchtbaren Folgen besser und frühzeitiger erkannt werden.
Das polizeiliche Bedrohungsmanagement muss besser werden.
Welche konkreten Maßnahmen kann man in Deutschland unternehmen, um die Prävention vor der Tat zu stärken?
Bannenberg : Das polizeiliche Bedrohungsmanagement muss besser werden. Auch die psychiatrischen Möglichkeiten der Einschätzung der Fremdgefahr bei diesen drohenden Anschlägen, wenn eine Person vorgestellt wird. Außerdem braucht es eine fundiertere Entscheidungspraxis der Justiz.
Wie stark sind bei der Prävention Unterschiede zwischen einzelnen Bundesländern ausgeprägt?
Bannenberg : Man kann das schlecht am Bundesland festmachen, sondern oft nur an Personen. Es gibt Polizeibeamte, die sehr fit sind und in Minuten Schritte zur Abklärung einer möglichen Gefahr einleiten. Es gibt aber auch Dienststellen, die damit völlig überfordert sind, weil es keine speziellen Zuständigkeiten für die Bedrohungsabklärung gibt oder diese intern nicht bekannt sind. Es wird schwierig und ist ein Einfallstor, wenn Beamte Hinweise nicht ernst nehmen, nicht wissen, nach welchen Kriterien sie Gefahren prüfen und wie sie handeln müssen. Das lässt sich aber nicht auf einzelne Länder herunterbrechen, sondern hängt an Einzelpersonen.
Was kann jeder Einzelne tun, wenn er im Umfeld auffällige Entwicklungen beobachtet?
Bannenberg : Die wichtigsten Hinweise kommen fast immer aus dem direkten Umfeld — von Arbeitskollegen, Lehrern, Nachbarn, seltener auch von Angehörigen. Oft haben diese Menschen ein ungutes Gefühl, zögern aber, die Polizei einzuschalten. Dabei ist genau das entscheidend. Wer unsicher ist, kann sich auch an unser Beratungsnetzwerk für Amokprävention wenden. Auf meiner Webseite gibt es dafür ein niedrigschwelliges Angebot mit wenigen, klaren Fragen: Glauben Sie, dass sich jemand in Ihrem Umfeld mit einer Amoktat oder einem Anschlag beschäftigt? Sind Sie unsicher, ob Sie handeln sollen? Wenn ja: Rufen Sie uns an. So simpel und wichtig ist das. Dieses Netzwerk gibt es seit zehn Jahren – und wird rege genutzt.
Und lässt sich sagen, wie oft die Sorgen begründet sind?
Bannenberg : Die Sorge ist in über 80 Prozent der Fälle berechtigt. In der Regel wird die Polizei eingeschaltet und es werden weitere Maßnahmen ergriffen. Es ist sehr unterschiedlich, wie Beratungen verlaufen und wie sich eine solche Person danach verhält. Letztlich geht es um die Abklärung im weiteren Sinne: Polizei, Psychiatrie, Justiz. Aber auch darum, die Person zu motivieren, sich in Behandlung zu begeben. Meistens funktioniert das gut. Bevor eine Tat begangen wurde, kann man sehr gut intervenieren. Das heißt, die Person gibt ihre Gedanken auf, eine Tat begehen zu wollen. Man muss intervenieren, um das Schlimmste zu verhindern.
Unsere Gesellschaft ist nicht gut darin, Opfern beizustehen. Man kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.
Mannheim wurde innerhalb von neun Monaten zum zweiten Mal Schauplatz einer dramatischen Tat. Was machen solche Taten mit dem kollektiven Sicherheitsgefühl und wie verhindern wir, dass Angst und Misstrauen den öffentlichen Raum prägen?
Bannenberg : Das ist ein großes Problem. Die Folgen der Taten sind dramatisch und halten Jahrzehnte an. Sie werden Mannheim für immer begleiten. Man kann dem kollektiven Misstrauen eine Solidarität und ein Mitempfinden mit Betroffenen entgegensetzen. Trotzdem ist es eine schwierige Situation. Die Öffentlichkeit ist verunsichert. Andererseits müssen wir schauen, dass wir in einer Kommune wie Mannheim den Zusammenhalt stärken. Das kann über Gedenkstätten und Veranstaltungen zu Jahrestagen geschehen. Wichtiger ist, dass man Menschen, die die Tat miterlebt haben oder Angehörige oder Freunde verloren haben, geduldig zuhört. Man sollte Gespräche über das Geschehen nicht abblocken. Betroffene spüren, ob jemand diese Gespräche zulässt. Da haben wir insgesamt viel Handlungsbedarf. Unsere Gesellschaft ist nicht gut darin, Opfern beizustehen. Man kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.
Nach allem, was wir bislang wissen, und worüber wir gesprochen haben: Handelt es sich aus Ihrer Sicht um einen klassischen Amoklauf oder doch um eine politisch motivierte Tat?
Bannenberg : Es deutet insgesamt vieles auf eine klassische Amoktat hin, bei der es aber nicht ungewöhnlich wäre, wenn gewisse extremistische Versatzstücke dazu beigetragen haben.
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