Mannheim. Sie sitzen wieder zusammen am Küchentisch, Yaroslava Yurchenko und Tanja und Norbert Holzmeister. Ein Jahr ist es her, dass mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine für Yaroslava, ihre zwei Töchter, ihre Familie, ihr Land die Welt zusammenbrach. Zweieinhalb Wochen nach Kriegsbeginn, am 7. März, steht sie mit ihren Kindern vor der Tür der Holzmeisters in Neckarau. Über Umwege, jemand aus Mannheim kannte jemanden in Kiew, der Yaroslavas Schwester kannte, hatte die 35-Jährige gehört, dass die Holzmeisters sie aufnehmen würden. Zwei Monate lang wohnen die drei bei der Mannheimer Familie, der Sohn hat sein Zimmer geräumt, um Platz zu machen.
Die Hilfsbereitschaft ist damals groß, die Holzmeisters gehören zu der stetig wachsenden Gruppe der Mannheimerinnen und Mannheimer, die Geflüchtete privat beherbergen. Sie richten nicht nur ein Bett, sondern begleiten die Menschen auch bei ihren ersten Schritten in dem unbekannten Land. Yaroslava ist Musiklehrerin und Sängerin, sie unterrichtet an einer Privatschule, hat ein eigenes Musikstudio, ein Auto, ein Apartment. „Du hast alles, und in der nächsten Minute hast du nichts mehr“, so sagte sie damals im März, als wir sie das erste Mal trafen.

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Aus dem Nichts ist viel Neues entstanden. Yaroslava gründet einen Chor für ukrainische und deutsche Kinder, das Bach-Gymnasium stellt ihr einen Raum zur Verfügung. Sie unterstützt das „Ukrainian Café“ der evangelischen Matthäus-Gemeinde in Neckarau mit „Übersetzung, Information und Moral“, wie sie sagt.
Im April, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, fährt sie mit ihrer Schwester Jane, die bei einer anderen Familie in Mannheim untergekommen ist, zurück in die Ukraine. Sie wollen die Mutter nach Deutschland holen. Auch sie kommt bei den Holzmeisters unter. Ende Mai ziehen Yaroslava, ihre Mutter und Töchter aus, in eine eigene Wohnung. Die Vermittlung läuft über die sozialen Medien. Hier tauschen sich die Mannheimer aus, die über Nacht zu Flüchtlingshelfern geworden sind: Wer hat ein Zimmer frei, wer kann Kleidung spenden, hat jemand ein Fahrrad, einen Schulranzen, welche Dokumente müssen beantragt werden.
Anlaufstelle für Geflüchtete
Für die Holzmeisters sind die ersten Wochen eine Ausnahmezeit. Emotional und organisatorisch. Den Fernseher lassen sie meist aus, zu schrecklich sind die Bilder von den zerstörten Städten, zu bedrückend die Meldungen über die Opferzahlen. Wenn Yaroslava weint, weint Tanja Holzmeister mit, der Krieg ist auch in Mannheim angekommen.
Zum Treffen jetzt im Februar hat Yaroslava Alex mitgebracht, seinen Nachnamen möchte er nicht nennen, er wohnt schon länger in Deutschland, hat in Mannheim an der Universität Betriebswirtschaftslehre studiert. Er übersetzt. Yaroslava sagt, sie verstehe schon viel auf Deutsch, aber sprechen falle ihr schwer. Wie viele Kontakte sie in ihrer ukrainischen WhatsApp-Gruppe hat? Yaroslava lacht. „1000?“, sagt sie. Sie erzählt, wie wildfremde Menschen sie auf der Straße ansprechen.
„Yaroslava ist der Leuchtturm, alle kennen sie“, sagt Norbert Holzmeister. Er erzählt, dass Yaroslava nach ein paar Tagen schon wusste, wie sie mit der Straßenbahn in die Innenstadt kommt, wenn jemand sie nicht versteht, tippt sie ihre Antwort in die Übersetzungs-App am Handy. „Ich habe ihr oft angeboten, sie zu begleiten, aber sie wollte das allein machen“, erzählt Tanja Holzmeister.
So wird die 35-Jährige bald selbst zur Helferin. Für Menschen, die neu in Mannheim ankommen, und vor allem für die, die in der Ukraine sind. Yaroslava zeigt ein Video von einem ihrer Einsätze. Das Grosskraftwerk Mannheim hatte Generatoren zur Verfügung gestellt. Yaroslava berichtet, dass die Mitarbeitenden dafür auf das Weihnachtsfest verzichtet hätten. Ein Van wird beladen, und Yaroslava fährt ihn bis an die Westgrenze, nach Lemburg. Dort wird die Ware umgeladen und nach Bachmut transportiert, in eine der am schwersten umkämpften Städte der Ukraine. „Danke“, sagen die Männer von der Feuerwehr in dem Video. „Danke“, sagt auch Yaroslava. Sie zählt die Namen von Menschen auf, die sie unterstützt haben. Es sind viele Namen.
Kundgebung auf dem Marktplatz
Eine Gruppe von Ukrainerinnen und Ukrainern, zu denen auch Yaroslava zählt, hat in den vergangenen Monaten mehrere Kundgebungen in Mannheim organisiert, um gegen den Krieg in ihrem Land zu demonstrieren. Auch jetzt, am 24. Februar, dem Jahrestag des Krieges, findet auf dem Marktplatz eine Versammlung statt. „Russland will nicht nur die Ukraine erobern, er hat es auf ganz Europa abgesehen“, warnt Yaroslava. Sie erzählt, dass zwei Wochen vor dem Einmarsch jemand in dem Apartmenthaus, in dem sie wohnte, eine Karte ausgehängt habe, auf der das Invasionsszenario skizziert war. „Da haben sich alle lustig gemacht und gesagt ,Sieht aus wie eine Wetterkarte’.“ Niemand habe geglaubt, dass Putin die Ukraine überfällt. Der Fehler dürfe nicht noch einmal passieren. Putin müsse gestoppt werden.
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„Wir haben starkes Heimweh“, sagt Yaroslava. Auch die Kinder. Star ist inzwischen sieben Jahre alt, sie geht in die zweite Klasse der Almenhofschule. Alisa ist 13 und in der achten Klasse am Bach-Gymnasium. Es vergehe kein Moment, an dem sie nicht an Rückkehr denke. „Doch im Kopf verstehe ich, dass das nicht möglich ist, also versuche ich mich in Deutschland zu integrieren.“ Sie kennt viele, die es nicht mehr ausgehalten haben, die seien jetzt wieder in der Ukraine.
Fester Glaube an den Sieg
Andere können nicht zurück, weil sie nicht wissen, wohin sie gehen sollten. Nicht nur, weil die Häuser nicht mehr stehen, sondern weil ihnen die Familie genommen wurde. Sie erzählt von einer Frau, die mit ihren Kindern nach Deutschland geflohen sei. Ihr Mann sei in der Ukraine geblieben, Männer im Alter zwischen 18 und 60 dürfen nicht ausreisen, sie müssen das Land gegen Putin verteidigen. Der Mann der Frau, die jetzt in Mannheim lebt, starb am 6. April, einen Tag später zerstörte eine Bombe das Haus. „Das ist eine wahre Geschichte, und sie zeigt, was jeden Tag in der Ukraine passiert.“
Norbert Holzmeister sagt, dass das Thema medial längst nicht mehr so präsent sei. „Am Anfang hat man noch jede Offensive und Gegenoffensive verfolgt, man kannte den genauen Frontverlauf. Dann kamen andere Krisen.“ Mit Yaroslava ist die Familie lose in Kontakt. Sie seien die Türöffner gewesen, sagt Tanja Holzmeister. „Yaroslava braucht uns nicht mehr.“
Ob sie auf einen Frieden in der Ukraine hofft? „Hoffnung?“, sagt Yaroslava, „ich hoffe nicht, sondern ich glaube fest an den Sieg.“
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