Die Helfer
Als am 7. März zwei Frauen, vier Kinder und eine Katze vor der Wohnungstür der Familie Holzmeister in Mannheim stehen, ist alles hergerichtet. Die Betten, die Kleidung, die Hygienebeutel. „Wie in einem Hotel“, sagt Norbert Holzmeister, „so sollten sie sich auch fühlen, als Gäste.“ Die Frauen sind mit ihren Kindern vor dem Krieg in der Ukraine geflohen, sie sind mit dem Auto über Tschechien und Österreich nach Deutschland gefahren. Dass in Mannheim eine Familie sie aufnehmen will, haben sie über einen Bekannten erfahren. Da sind sie also. Weil nicht alle sechs bei den Holzmeisters unterkommen können, werden Freunde kontaktiert, sie nehmen die andere Mutter und deren zwei Kinder auf. Die Frauen sind Schwestern, die Männer in der Ukraine zurückgeblieben. „Das klassische Flüchtlingsbild“, sagt Holzmeister.
Holzmeister ist Lehrer an der Johannes Kepler Gemeinschaftsschule, er verfolgt den Krieg von Tag eins an, kann es nicht fassen und eines Tages nicht mehr aushalten. Er spendet Geld, doch findet, das reicht nicht. „Irgendetwas müssen wir machen“, sagt er zu seiner Frau und seinen zwei Kindern, Nico (15) und Laura (12). Irgendetwas, das heißt für Holzmeister: Er will Geflüchtete bei sich aufnehmen. Seine Frau Tanja, die Kinder wollen das auch, Nico ist bereit, sein Zimmer zu räumen. „Das ist ein Sprung ins kalte Wasser“, sagt Holzmeister. Er sei Pädagoge und psychologisch geschult, er könne rudimentär erahnen, was auf seine Familie zukommen könne. Aber dann ist da das Bedürfnis zu helfen. Und das ist stärker als die Bedenken.
Holzmeister spricht mit zwei Kolleginnen, die ukrainische Wurzeln haben, die kontaktieren eine Bekannte, die einen Bruder hat, der eine der Schwestern kennt. Es dauert nicht lange, da kommt ein Anruf, ob sie weiter zur Verfügung stünden. Das ist für die Holzmeisters keine Frage mehr. „Wir ziehen das durch.“
Seitdem wohnen sie zu siebt in ihrer 136-qm-Wohnung in Neckarau. An der Klingel und am Briefkasten steht nun auch der Name der ukrainischen Familie. Holzmeister sagt, es laufe gut, sie sprechen Englisch, das funktioniert. Dass die zwei Kinder, zwei Mädchen, Alisa (12) und Star (6), schnell zur Schule gehen sollten, ist für Holzmeister klar. „Das ist ein Baustein für gutes Ankommen.“ Er ist gebürtiger Mannheimer, kennt Lehrkräfte an anderen Schulen. Nach zwei Wochen sitzen die Mädchen im Unterricht. „Das war alles unkompliziert.“ Alisa, die in Kiew in die achte Klasse gegangen ist, besucht mit Laura die siebte Klasse am Bach-Gymnasium, Star geht in die erste Klasse der Almenhofschule.
Den Fernseher lässt Holzmeister aus, seitdem die ukrainische Familie bei ihnen ist. Er will ihnen die Bilder aus Städten, die täglich mehr und mehr in Schutt und Asche gelegt werden, ersparen. Er weiß, dass sich die Mutter sorgt. Wie soll es weitergehen, auch finanziell? Aber Holzmeister beruhigt sie: „Wir machen das jetzt Schritt für Schritt.“ Der nächste ist, bei der Ausländerbehörde einen Aufenthaltstitel zu beantragen. Freunde und Bekannte haben Kleidung, Möbel und Lebensmittel gespendet, die Holzmeisters hatten vor der Ankunft der Familie die Werbetrommel gerührt. „Unser Motto war ,Spenden ist geil, Courage zeigen’.“ Die Hilfsbereitschaft sei überwältigend gewesen, erzählt Holzmeister, auch Geld hätten viele überwiesen. Dass das willkommen sei, hätten sie offen kommuniziert. „Wir wissen ja nicht, wie lange das geht.“ Aus der Ukraine Vertriebene erhalten nach der erstmals in der EU aktivierten Richtlinie zum Massenzustrom „vorübergehenden Schutz“, sie können dann bis zu drei Jahre in Deutschland bleiben.
Ob er manchmal Angst vor seiner eigenen Courage habe? Klar, der Alltag müsse weitergehen, seine Frau arbeite im Homeoffice, er selbst unterrichte und erhole sich noch von einer schweren Corona-Infektion. Aber es gibt keine Exit-Strategie. Wenn es ihnen zu viel wird, müssten sie eine andere Lösung finden. Jetzt zählt, was jetzt ist, und vor allem: „Es war wichtig und richtig, zu helfen.“
Die Geflüchteten
Ihr Ex-Mann sagt ihr schon Tage vor Wladimir Putins Invasion der Ukraine: „Nimm die Kinder und geh nach Europa.“ Aber Yaroslava Yurchenko erwidert, warum soll ich gehen? Ich lebe hier, hier ist meine Arbeit. „Du brauchst keine Arbeit mehr, glaub mir“, sagt ihr Ex-Mann, der Berufssoldat in der ukrainischen Armee ist. Doch Yaroslava Yurchenko glaubt ihm nicht. Erst als sie im Keller des Hauses ihrer Schwester Jane ist, die Kinder fest umschlungen, während oben die Bomben explodieren, die Sirenen sie immer wieder aus dem Schlaf reißen, da weiß sie, dass ihr Ex-Mann recht hatte. Dass sie hier nicht bleiben kann.
Die Schwestern starten einen Aufruf über Facebook, ob jemand ihnen eine Bleibe in Lviv zur Verfügung stellen kann, und finden ein Haus. Die zwei Frauen, ihre Kinder, die Oma und die Schwiegermutter von Jane fahren mit zwei Autos nach Lviv an die polnische Grenze. Sie hoffen, dass sie dort sicher sind. Doch der Krieg ist bald überall, das Haus liegt in der Nähe des Flughafens, der droht beschossen zu werden.
Yaroslava und Jane beschließen, das Land zu verlassen. Am 5. März machen sie ein letztes Familienfoto. Über einen Freund haben sie erfahren, dass es in Mannheim eine Familie gibt, die sie aufnehmen möchte. Sie nehmen das Auto von Jane, von Lviv nach Tschechien brauchen sie einen Tag, viele Stunden müssen sie vor der Grenze warten. „Wenn ich keine Kinder hätte, wäre ich geblieben und hätte mein Land verteidigt“, sagt Yaroslava Yurchenko.
Sie ist 34 Jahre alt, Musiklehrerin und Sängerin, sie unterrichtet an einer Privatschule, hat ein eigenes Musikstudio, ein Auto, ein Apartment. „Du hast alles, und in der nächsten Minute hast du nichts mehr“, sagt sie. Während der Krim-Krise, als Putin die Halbinsel annektierte, flohen viele Menschen nach Kiew. „Wir haben ihnen geholfen.“
Jetzt ist sie selbst eine Geflüchtete. Sie wohnt in der Wohnung einer Familie, die vor zwei Wochen noch Fremde für sie waren. Sie trägt Kleidung, die Menschen gespendet haben. Sie geht in einen Supermarkt und versteht niemanden und niemand versteht sie. Auf ihrem Handy hat sie eine Übersetzungs-App, die nutzt sie, wenn ihr Englisch nicht mehr reicht. „Ich hätte nie gedacht, dass das passieren würde“, sagt sie. Rund zwei Wochen vor dem Einmarsch hat jemand in dem Hochhaus, in dem sie wohnt, eine Karte ausgehängt, auf der das Invasionsszenario skizziert war. Da haben sich alle lustig gemacht und gesagt „Sieht aus wie eine Wetterkarte“.
Yaroslava Yurchenko ist mit ihren Schülerinnen und Schülern fast täglich in Kontakt, sie erteilt Unterricht über Zoom, wenn nicht gerade Luftalarm ist, sie stellt Aufgaben ein, die die Kinder selbst lösen können, chattet mit ihnen. Viele Familien sind noch immer in Kiew, manche bei Verwandten und Freunden außerhalb der Hauptstadt untergekommen, andere in die Nachbarländer geflohen. Die Schulleitung habe die Lehrer gebeten, so weit es geht, weiter Unterricht anzubieten.
Yaroslava Yurchenko sagt, sie habe großes Glück gehabt, dass Tanja und Norbert, die Holzmeisters, sie aufgenommen hätten. „Danke, danke, danke“, sagt sie und weint. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so gute Menschen gibt.“ Es gehe ja nicht nur darum, Essen und Kleidung zu bekommen, sondern auch eine Umarmung, eine Versicherung: „Alles wird gut.“ Wenn ihre Kinder fragen, wann sie zurückgehen, sagt sie: „Wenn es zu Ende ist, gehen wir nach Hause.“
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Beeindruckende Hilfe für Geflüchtete in Mannheim