Mannheim. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es im Grundgesetz, Artikel 20, 2. „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“ Wer aber gehört zum Volk?
Seit mehr als 20 Jahren lebt Mustafa Dedekeloğlu nun in Mannheim. Er spricht fließend Deutsch, hat hier studiert, er arbeitet, hat eine Familie gegründet und engagiert sich in Vereinen und Verbänden ehrenamtlich, auch im Migrationsbeirat der Stadt. Wenn am 18. Juni 235 000 Mannheimer und Mannheimerinnen über ein Stadtoberhaupt entscheiden dürfen, bleibt Dedekeloğlu aber außen vor. Als türkischer Staatsbürger darf er nicht wählen.

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Das Kommunalwahlrecht verwehrt ihm den wichtigsten politischen Beteiligungsprozess einer Demokratie. Dedekeloğlu ist damit nicht allein. Laut Migrationsbeirat sind 15 Prozent der über 16-Jährigen in Mannheim Lebenden bei der Oberbürgermeisterwahl nicht wahlberechtigt, weil sie keinen deutschen Pass besitzen und einem Staat außerhalb der Europäischen Union angehören. Im Oktober 1990 hatte das Bundesverfassungsgericht die Versuche Hamburgs und Schleswig-Holsteins für verfassungswidrig erklärt, über Landesgesetze ein Kommunalwahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer einzuführen.
Symbolische OB-Wahl in Mannheim: Kurz ruft zur Stimmabgabe auf
Wie vor der Bundestagswahl 2021 organisiert der Migrationsbeirat eine sogenannte Symbolische Wahl. Bis 10. Juni können Mannheimer und Mannheimerinnen, die älter als 16 sind und keine deutsche oder EU-Staatsangehörigkeit besitzen, in Wahllokalen ihr Kreuz hinter einem der Bewerberinnen und Bewerbern machen.
Auch Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) hat dazu aufgerufen. „Nutzen Sie Ihre Möglichkeit und gehen Sie, wenn Sie bei der offiziellen Wahl nicht wahlberechtigt sind, symbolisch wählen.“ So könne ein Zeichen für mehr Demokratie gesetzt werden. Organisiert wird die Wahl auch von Kooperationspartnern des Migrationsbeirats, die dafür zahlreiche Räumlichkeiten zur Verfügung stellen.
Wir wollen vor allem den Menschen zeigen, die nicht wählen dürfen, dass uns ihre Stimme wichtig ist.
„Wir wollen vor allem den Menschen zeigen, die nicht wählen dürfen, dass uns ihre Stimme wichtig ist“, sagt die Vorsitzende des Migrationsbeirats, Zahra Alibabanezhad Salem. Zum anderen sei es wichtig, der Gesellschaft bewusst zu machen, „wie viele Menschen es gibt, die in Mannheim teilweise seit einem Jahr oder teilweise sogar seit Jahrzehnten leben, die genauso von allen Entscheidungen des Gemeinderats oder des Oberbürgermeisters oder der Oberbürgermeisterin betroffen sind - aber die nicht wählen dürfen“. In Mannheim sind das am 18. Juni immerhin etwa 42 500 Menschen.
Ergebnis der symbolischen Wahl beeinflusst die offizielle Wahl nicht
Das Ergebnis beeinflusst die offizielle Wahl nicht - weder fließen die Stimmen in die Auszählung ein noch soll vor dem regulären Ergebnis das der Symbolischen Wahl veröffentlicht werden. Auch wenn der Oberbürgermeister im zweiten Wahlgang ermittelt wird, veröffentlicht der Migrationsbeirat das symbolische Ergebnis erst danach.
Es bedrückt mich aber, dass ich seit 20 Jahren nicht gefragt werde, wen ich wählen würde.
Obwohl Dedekeloğlu nicht wählen darf, ist er alles andere als politikverdrossen. Über ehrenamtliche Engagements möchte er mitgestalten - sei es über den Migrationsbeirat oder über andere Vereine. Nur selbst entscheiden, wer in Mannheim Politik macht, das darf Dedekeloğlu nicht. Zwar sagt er, dass er sich „natürlich“ vom Stadtoberhaupt repräsentiert fühlen werde. „Es bedrückt mich aber, dass ich seit 20 Jahren nicht gefragt werde, wen ich wählen würde.“ Wenn ein Geschäftsmann nach Mannheim gezogen ist, hier drei Monate gemeldet ist, wäre der wahlberechtigt. „Da habe ich mich schon oft gefragt, ob das fair ist.“
Alibabanezhad Salem, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, sieht darin auch die Frage, wer ab wann Teil der Gesellschaft ist. Menschen flüchteten auch aus autoritär regierten Staaten nach Deutschland. „Hier wird ihnen gesagt, sie leben in einer Demokratie“, sagt sie. „Aber das wichtigste Recht einer Demokratie, nämlich wählen, dürfen sie teilweise auch nach Jahrzehnten nicht wahrnehmen.“
Dedekeloğlu nickt. „Was es heißt, wählen zu dürfen, wird einem vor allem bewusst, wenn man es nicht darf“, sagt er. Alibabanezhad Salem ergänzt: „Wir wollen bei der Symbolischen Wahl Menschen das Gefühl vermitteln, was es bedeutet, vielleicht zum ersten Mal überhaupt in eine Wahlkabine zu gehen und frei, geheim und gleichberechtigt zu wählen.“
Diskussion über Einbürgerung
Interessant werde sein, wie das Ergebnis der Wahl ausfällt, wenn man - theoretisch - die Stimmen auf die der offiziellen Wahl addiere. „Vielleicht ändert das nichts“, sagt die Vorsitzende des Migrationsbeirats, der als Mitglied des Netzwerks „Wir wählen“ das Wahlrecht für alle fordert. „Vielleicht zeigt sich aber, dass eine andere Kandidatin oder ein anderer Kandidat gewonnen hätte.“
Thematisch sind Mitglieder des Migrationsbeirat zur Neutralität verpflichtet. Als Vorsitzende des Gremiums erklärt Alibabanezhad Salem aber, dass Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund die gleichen Themen interessierten: Kinderbetreuung, Fahrradwege oder der Verkehr in der Innenstadt.
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Dedekeloğlu lebt hier, ist integriert, will wählen - warum nimmt er nicht die deutsche Staatsangehörigkeit an? Ihn fasziniere es, wenn bei der Einbürgerungsfeier der Stadt Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit davon sprechen, „nun zwei Heimaten zu haben“, sagt er.
Derzeit wird eine Reform der Einbürgerung diskutiert - die doppelte Staatsbürgerschaft für Deutschtürken ist bislang nur in Ausnahmen möglich. „Wenn ich eine neue Heimat möchte, müsste ich die andere aufgeben.“ Ein großer Schritt, verbinde er mit der Türkei doch auch seine Jugend und Familie. „Das ist Teil meiner Identität.“
Bürokratische Hürden
Alibabanezhad Salem gibt unterdessen zu bedenken: „Es gibt viele Punkte, die unter Umständen wegfallen, wenn man die Staatsbürgerschaft aufgibt.“ Sie nennt unter anderem Probleme im Erbrecht, bei Beerdigungen oder dem Treffen anderer Entscheidungen.
„Ich hoffe, dass für uns die doppelte Staatsbürgerschaft bald möglich ist“, sagt Dedekeloğlu. Dann dürfte er auch offiziell wählen. Zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren.
Informationen und Wahllokale: www.mannheim.de
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Mannheimer OB-Wahl: Fehlendes Ausländerwahlrecht ist ein Missstand der Demokratie