Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die durch die Pandemie psychisch belastet sind, ist auch nach zwei Corona-Jahren sehr hoch. Das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) spricht auf Anfrage von langen Wartelisten bei der Behandlung von Depressionen und Angststörungen, auch schwere Essstörungen sind noch immer ein Thema. Zwar hat sich die Situation durch geöffnete Schulen und Freizeitmöglichkeiten leicht verbessert, doch noch immer brauchen deutlich mehr junge Menschen Hilfe bei psychischen Auffälligkeiten als vor der Pandemie.
„Die Situation ist besser als vor einem Jahr, aber im Februar und März 2022 hatten wir einen enormen Anstieg der ambulanten Warteliste innerhalb kurzer Zeit, auch schon vor Weihnachten haben wir gemerkt, dass mehr Menschen Hilfe brauchen“, sagt Yvonne Grimmer, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie am ZI.
Eine Zunahme psychischer Erschöpfung nach dem Winter sei zwar nicht ungewöhnlich. „Aber vor der Corona-Pandemie war die Kurve noch milder, da kam der Anstieg nicht so plötzlich und war nicht so steil“, hat die Oberärztin beobachtet. „Eine Warteliste haben wir hier immer, aber derzeit ist diese wieder sehr lang. Uns machen zusätzlich die Corona-Erkrankungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schaffen. Das Arbeiten ist deshalb gerade deutlich erschwert. Unsere Stationen sind belegt, aber uns fehlen immer wieder Mitarbeiter.“
Suizidversuche waren noch vor einem Jahr ein großes Thema. Aktuell liegen dazu zwar keine Mannheimer Zahlen vor, doch Grimmer verweist auf eine Studie der Essener Uniklinik dazu: Diese hatte Anfang des Jahres gemeldet, dass die Zahl junger Menschen, die deshalb auf einer Intensivstation behandelt wurden, während des zweiten Lockdowns um 400 Prozent gestiegen sei - an der Studie hatten sich 27 Kinder-Intensivstationen beteiligt. Experten gehen deshalb noch immer von einer hohen Zahl Betroffener aus.
Ein wichtiger Schritt für ein besseres psychisches Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen sei die Öffnung von Freizeitmöglichkeiten und Schulen nach dem letzten Lockdown gewesen: „Natürlich ist auch gerade jetzt noch immer mal jemand in Quarantäne, aber die Schulen mussten nicht mehr komplett schließen. Niemand musste mehr lange Zeit alleine im Homeschooling sitzen, es war immer ein befristeter Zeitraum“, so Grimmer. Die Öffnung sei dringend nötig gewesen: „Ich weiß nicht, was uns erwartet hätte, wenn die Schulen länger geschlossen gewesen wären.“
Wie ging es den Menschen vor einem Jahr?
Doch obwohl ein stabiler Tagesablauf nun wieder möglich ist: Das ZI arbeitet mit einigen jungen Menschen, die seit Beginn der Pandemie nicht mehr in der Schule waren: „Diese Jugendlichen haben enorme soziale Ängste, trauen sich nicht aus dem Haus, unter Menschen“, weiß die Oberärztin. Einige seien wegen der Schwere ihrer Probleme ambulant nicht zu behandeln: „Sie müssen dann stationär aufgenommen werden, auch wenn sie manchmal selbst keine Einsicht in ihre Erkrankung haben.“
Seit einigen Wochen sorgt nun auch der Krieg in der Ukraine für eine neue psychische Belastung: „Manche jungen Menschen sagen uns, dass sie keine Kinder möchten, weil die Zukunft so ungewiss ist“, berichtet Grimmer. Viele fühlten sich hilflos. Dabei sei es wichtig, aktiv zu werden, um für positive Gefühle zu sorgen: „Jeder kann etwas tun, egal wie klein es auch sein mag. Für Flüchtlinge spenden, benötigte Kleidung weitergeben, ukrainische Kinder in der Schule unterstützen. Mit all dem kann man sich auf einen positiven Weg aus der Hilflosigkeit bringen“, rät Grimmer.
Sie appelliert jedoch an alle Eltern, mit dem Nachwuchs altersgerecht über den Krieg zu sprechen und dafür zu sorgen, dass sich die Kleinen nicht alle Nachrichten anschauen: „Nicht alles ist für Kinder und Jugendliche geeignet, wir empfehlen beispielsweise das Arte Journal Junior oder die Logo-Nachrichten im ZDF.“ Eltern sollten zudem darauf achten, aktiv das Gespräch mit dem Nachwuchs zu suchen und regelmäßig für positive Erlebnisse zu sorgen: „Das ist wichtig, um Kraft zu tanken“, sagt Grimmer. Und nicht nur für Jüngere gelte, das Handy nicht immer parat zu haben, um sich informationstechnisch auf den neuesten Stand zu bringen.
Hier finden Kinder, Jugendliche und Erwachsene Hilfe
- Yvonne Grimmer, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI), empfiehlt bei niederschwelligen Problemen eine psychologische Beratungsstelle. Bei schwereren Problemen, längerfristigen Ängsten, gedrückter Stimmung oder Essstörungen sollten Kinderarzt oder Hausarzt informiert werden, die gegebenenfalls eine Überweisung zum Kinderpsychiater ausstellen. „Am ZI bieten wir jetzt in Krisenfall schnellere Erstvorstellungstermine an“, sagt Grimmer. Bei lebensmüden Gedanken ist jederzeit eine Notfallvorstellung im ZI möglich: Jugendliche können sich im Notfall auch allein vorstellen.
- Krisenambulanz des ZI: Telefon 0621/1703-2850 (Telefonservice der Zentralambulanz), E-Mail: zentralambulanz@zi-mannheim.de (Zuweisung durch Kinderarzt oder Hausarzt erforderlich).
- Psychologische Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Stadt Mannheim: Informationen und Adressen im Internet unter www.pb-mannheim.de
- Psychologische Beratungsstelle des Caritasverbands: Telefon 0621/1 25 06-0 (Mo-Fr 9-12 Uhr, Mo-Mi 13-16 Uhr, Do 13-17 Uhr und Fr 13-15 Uhr) oder E-Mail: erziehungsberatung@caritas-mannheim.de
- Psychologische Beratungsstelle der Evangelischen Kirche Mannheim: Telefon 0621/28000-280, Informationen im Internet unter www.ekma.de/Psychologische_Beratungsstelle
- Ehe-, Familien- und Lebensberatung Mannheim der Katholischen Gesamtkirchengemeinde Mannheim: Informationen und Kontakt im Internet unter www.eheberatung-mannheim.de
- Schulpsychologische Beratungsstelle Mannheim: Telefon: 0621/292-4190, Beratungslehrer können an jeder Schule über das Sekretariat erfragt werden.
Insgesamt hofft Grimmer, dass die Menschen aus den Erfahrungen der Pandemie lernen: „Dass man an den entscheidenden Stellen im Blick hat, wie die Jugendlichen künftig gestärkt werden können.“ Denn gerade in der Schule könnten viele Probleme aufgefangen werden: „Aber man kann nicht alles den Lehrern auflasten, hier muss auch die Schulsozialarbeit viel stärker integriert werden“, fordert die Fachärztin.
Die Arbeit, betont sie, sei jedenfalls noch lange nicht vorbei: „Man kann sicher viele junge Leute wieder auf den Weg bringen, wenn sich die Lage wieder entschärft, aber bildungstechnisch gibt es viele Kinder, und Jugendliche, die durch das Raster gefallen sind.“ Dass es durch den Lockdown und die Schulschließung soweit kommen würde, dass junge Menschen den Weg zurück ins Klassenzimmer nicht schaffen, sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ZI klar gewesen: „Die Schulen hatten ja keinen Zugriff mehr.“ Reine Depressionen könnten Einrichtungen wie das ZI auch auffangen. „Aber es dauert länger, junge Leute auf den Weg zu bringen, die seit zwei Jahren nicht in der Schule waren.“ Pauschale Hilfen gebe es hierbei nicht: „Wir müssen in jedem Einzelfall schauen, ob es sinnvoll ist, die Klasse zu wiederholen, was genau zu tun ist. Manche werden vielleicht nie ihren Abschluss machen können.“ Dennoch ist sie sicher: „Die meisten jungen Leute werden die Krise gut überstehen, vor allem die, die aus stabilen Verhältnissen kommen.“ Einige hätten den Lockdown und das Homeschooling in den heimischen vier Wänden allerdings nicht geschafft. Sie brauchen weiterhin Hilfe.
Medientipp: Wie können sich Kinder altersgerecht über den Ukraine-Krieg informieren? Spezielle Seiten gibt es im Internet auf der Kindersuchmaschine blinde-kuh.de.
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