Stadtgeschichte

Wie in Mannheim die Erinnerung an ein ungesühntes Verbrechen wachgehalten wird

Am Rangierbahnhof zwischen Rheinau und Seckenheim ermordeten Polizei und SS Ende März 1945 mindestens 18 Zwangsarbeiter. Warum die Täter nie bestraft wurden und wie die Erinnerung wachgehalten wird

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Konstantin Groß
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Eindrucksvolle Zeremonie: Oberbürgermeister Christian Specht (2. v. l.) und sein französischer Amtskollege Jean Hirli gedenken der Ermordeten. © Heike Warlich

Mannheim. Es herrscht eine besondere Atmosphäre unterhalb des Kreuzweges im Mannheimer Stadtteil Pfingstberg. Von Ferne ist das Quietschen der Züge am Rangierbahnhof zu hören, während die Europahymne erklingt. Fahnen der Französischen Republik und der Organisation der Deportierten werden gesenkt, ein Kranz des Oberbürgermeisters in den Farben der Stadt Mannheim niedergelegt.

Ort des Geschehens: die - welche Symbolik! - direkt unterhalb des Kreuzweges vor drei Jahren entstandene Gedenkstätte für die im März 1945 ermordeten Zwangsarbeiter. Ein „Endphasenverbrechen“, wie Historiker das nennen. Sinnloser und verbrecherischer als der ohnehin schon sinnlose und verbrecherische Angriffskrieg der Deutschen.

Seckenheim

Rangierbahnhof Seckenheim: Gedenken an Ermordete von 1945

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Nach Landung der Alliierten in der Normandie vom Juni 1944 weicht die Front der Wehrmacht immer weiter zurück, nähert sich Ende 1944 unweigerlich der Grenze zu Deutschland. Um den innerfranzösischen Widerstand, die Résistance, zu schwächen, wie Peter Koppenhöfer in seinem instruktiven historischen Abriss erläutert, werden im November 1944 aus mehreren Vogesen-Orten 7000 Männer und Jungen ab 17 Jahren nach Deutschland verschleppt, ihre Heimatstädte geplündert und in Brand gesetzt; Saint-Dié etwa brennt fünf Tage lang, 20 000 Häuser werden zerstört, sogar die Kathedrale gesprengt, trotz flehentlicher Bitten der Einheimischen, das historische Bauwerk zu verschonen.

Von den 7000 Verschleppten kommen rund 1700 nach Mannheim. 970 davon stammen aus Saint-Dié, 373 aus Moyenmoutier. In Mannheim werden sie renommierten Großunternehmen und kleineren Betrieben als Zwangsarbeiter zugewiesen. Hier schuften und leben sie unter unwürdigsten Bedingungen, müssen den Winter überstehen, oft ohne Schuhe, in zerlumpten Kleidern - und damit zwangsweise auch noch das von den Nazis propagierte zynische Vorurteil von den schlampigen Franzosen bestätigen.

Mindestens 18 Zwangsarbeiter wurden ermordet

Von Hunger getrieben, sind sie dabei, als zu Kriegsende im März 1945 am Rangierbahnhof gestrandete Versorgungszüge der Wehrmacht geplündert werden. Während die deutschen Plünderer davonkommen, werden die Zwangsarbeiter, teilweise von ihren Arbeitgebern zu diesem Zweck dorthin geschickt (!), von Feldpolizei und SS ermordet: mindestens 18 Menschen sterben, davon vier aus Frankreich sowie 14 aus Polen, der Ukraine und dem übrigen Osteuropa. An sie erinnert der Gedenkhain an der Gedenkstätte.

Mannheim

Gedenken an 18 Ermordete vom März 1945

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Doch auch für jene, die überleben, mag der Schrecken kein Ende nehmen: „Nach sechs Monaten in einem Leben, das vom Rhythmus der Angst vor Bomben, der erschöpfenden Arbeit, mangelhafter Ernährung und fehlenden Nachrichten um ihre Angehörigen bestimmt war, sind sie Ende April 1945 endlich nach Frankreich zurückgekommen, um ihre Heimatstadt als Ruinenstadt vorzufinden“, beklagt Marcel Cauvin, Präsident der Vereinigung der nach Mannheim Deportierten und ihrer Nachfahren, die bereits 1947 entsteht. Und das mit Grund.

Denn auch in Frankreich haben die Überlebenden es schwer - gelten als „die für den Feind gearbeitet haben“. Bis heute erhalten sie keine Entschädigung - weder vom französischen noch vom deutschen Staat, geschweige denn von den Mannheimer Firmen, für die sie schufteten.

Reise von Überlebenden nach Mannheim

Doch ebenso wichtig wie die Interessenvertretung ist ihrer Organisation das Gedenken an das Leid der Betroffenen - dies jedoch von Anbeginn an gemeinsam mit den Deutschen. Bereits 1950 kommt es zu einer ersten Reise von Überlebenden in fünf Bussen nach Mannheim. 1990 knüpft Peter Koppenhöfer nach Saint Dié jene Kontakte, die bis heute tragen. Bei der Einweihung eines Denkmals für die Deportierten in Saint-Dié im November 2023 etwa sind die Seckenheimer Wilhelm Stamm und Werner Seitz dabei, die sich hier vor Ort in Seckenheim der Aufarbeitung des Themas widmen.

Unter den 1945 Ermordeten ist auch der damals 33-jährige Henri Arthaud; namentlich an ihn wird erinnert beim jetzigen Gedenken an das Verbrechen, dessen Opfer damit auch ein Gesicht erhalten. Arthaud stammt aus dem lothringischen Moyenmoutier, dessen Bürgermeister Jean Hirli denn auch mit einer Delegation zur jetzigen Gedenkfeier nach Mannheim gekommen ist.

Stadtgeschichte

Grausames Kriegs-Verbrechen vor 77 Jahren am Rangierbahnhof Mannheim

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„Henri, wir werden Dich nicht vergessen und verneigen uns in Gedanken vor Dir“, bekennt der Maire. Ausdrücklich bedankt er sich bei den Veranstaltern für die „Qualität Ihres Empfangs“ und schließt mit den gerade bei diesem für Franzosen so schmerzlichen Anlass umso bedeutenderen Worten: „Vive l’amitié franco-allemande! Vive l’Europe“ - Es lebe die französisch-deutsche Freundschaft! Es lebe Europa!

Oberbürgermeister Christian Specht spricht von „einem dunklen Kapitel unserer Stadtgeschichte“. Zumal: Dieses Verbrechen „blieb nach dem Krieg ungesühnt“, wie der Rathaus-Chef erinnert: „Keiner der Täter musste sich je vor einem Gericht für die Morde am Rangierbahnhof verantworten.“

Bekenntnis der Stadt zur Erinnerung an das Verbrechen

Im Namen der Stadt legt der OB ein unzweideutiges Bekenntnis zur Erinnerung ab: „Ich kann Ihnen versichern, dass die Vogesen-Deportation wie auch alle Opfer dieses Massakers in unserer Stadt nicht vergessen sind“, betont er: „Die Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus wachzuhalten, betrachten wir als eine immerwährende Aufgabe und Verpflichtung.“

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„Der Vergessenheit entreißen“

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Der Dank des Oberbürgermeisters gilt Peter Koppenhöfer, der sich seit Jahrzehnten diesem Thema widmet, angefangen in den 1980er Jahren mit der KZ-Gedenkstätte Sandhofen, sowie den in der Seckenheimer Ortsgeschichte aktiven Ehrenamtlichen um Wilhelm Stamm und der Interessengemeinschaft der Vereine, die diese Gedenkveranstaltung alljährlich organisiert. Deren Vorsitzender Jürgen Zink begrüßt denn auch die zahlreichen Gäste, allen voran die Stadträtinnen Marianne Seitz und Nina Wellenreuther - und lädt bereits für März 2025 ein.

Wie wichtig das ist, macht der OB ebenfalls deutlich: „Gerade in der heutigen Zeit ist dieses freundschaftliche Band von besonderer Bedeutung, um gemeinsam für ein Leben in Frieden und Freiheit in einem vereinten Europa einzutreten.“

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