„Was hier passiert ist, das war dermaßen sinnlos“, seufzt Traudl Gersbach: „So kurz vor dem Ende des Ganzen und dann noch so brutal“, schaudert es der Vorsitzenden des Heimatmuseums-Vereins Seckenheim. Am 28. März 1945, wenige Tage, ja Stunden vor der Besetzung Mannheims durch die Amerikaner, werden am Seckenheimer Rangierbahnhof 18 ausländische Fremd- und Zwangsarbeiter von fanatischen Nazis ermordet. Die Seckenheimer Ortshistoriker haben ihr Schicksal aufgearbeitet und wollen am 75. Jahrestag dieses Verbrechens eine Gedenktafel für die Opfer enthüllen.
Der „MM“ trifft die Aktiven im Heimatmuseum im Ortskern Seckenheims: neben Gersbach ihr Stellvertreter Wilhelm Stamm, Willi Pint von der Interessengemeinschaft der Vereine, Wolfgang Vogler. Und Peter Koppenhöfer. Seit vier Jahrzehnten engagiert sich der Pädagoge für die Aufarbeitung der dunklen Seiten der Mannheimer Stadtgeschichte, gilt als ein Initiator der KZ-Gedenkstätte im Stadtteil Sandhofen. „Wir haben uns zwei Jahre lang intensiv mit diesem Thema beschäftigt“, berichtet Stamm.
Ein „Endphasenverbrechen“
Ihr Blick führt in die letzten Wochen des Dritten Reiches 1945. Im Berliner Führerbunker agiert noch jener Mann, der den Kontinent in den Abgrund gestürzt hat. Doch immer mehr Gebiete werden seiner Herrschaft entrissen. Oft bricht die NS-Verwaltung eines Gebietes schon vor dessen Besetzung durch die Alliierten zusammen. Doch einzelne fanatische Nazis, die buchstäblich bis zum letzten Atemzug Widerstand leisten wollen, töten weiterhin all jene, die sich dem endgültig sinnlos gewordenen Sterben entziehen wollen; „Endphasenverbrechen“ nennt das die Geschichtswissenschaft.
Dies ist die Ausgangslage für jene Ereignisse, die sich Ende März 1945 im Süden Mannheims ereignen. Am Rangierbahnhof stehen an die tausend Güterwagen, die aufgrund der Kriegslage nicht weiterkommen, gefüllt mit Lebensmitteln wie Mehl, Zucker, Grieß, Nudeln und Wein, aber auch Briketts und Waffen. Am 27. März beginnt deren Plünderung, doch dieser Begriff ist eigentlich unlauter; denn hier wird nicht „geplündert“, hier versuchen hungernde Menschen, Lebensmittel für sich und ihre Familien zu organisieren.
Dazu gehören auch Fremd- und Zwangsarbeiter, die in einem Lager nahe dem Rangierbahnhof untergebracht sind. Sowjetische, polnische und französische. Manche werden von den Deutschen, denen sie zugeteilt sind, ausdrücklich geschickt, um für diese die begehrten Güter aus den Waggons zu holen.
Denn das Ganze ist hochgefährlich. Plündern ist bei Todesstrafe verboten. Bewacht werden die Züge von Angehörigen der Militärgendarmarie, „Feldpolizei“ genannt. Während diese die deutschen Plünderer zumeist laufen lassen, gehen sie gegen die ausländischen brutal vor. Sie sprechen sie an, und wenn sie an der Sprache einen Ausländer erkennen, wird dieser sofort erschossen.
Überlebende legen Zeugnis ab
Unter den Ermordeten ist Henri Diebold, 42 Jahre alt; sein ebenfalls internierter Cousin kann entwischen und sich verstecken, überlebt das Grauen, kann der Nachwelt davon berichten. Die Enkelin eines anderen Überlebenden, Liliane Jérôme, macht sich vor Jahren an die Erforschung des Verbrechens, schreibt, unterstützt von Koppenhöfer, darüber ein Buch: „Tod in der Fremde“.
Inzwischen steht fest: Es gibt mehr als diese beiden anfangs überlieferten Fälle, insgesamt 18. Die Seckenheimer Historiker ergänzen das Material etwa durch Zeitzeugen-Erinnerungen von Erich Karl.
„Dieses NS-Verbrechen, wenige Tage vor Kriegsende, soll der Vergessenheit entrissen werden“, betont Wilhelm Stamm. Im Vorfeld des Jahrestages hat der Verein bei Steinmetz Heinz Ommert eine Gedenktafel in Auftrag gegeben. Eingeweiht wird sie am 28. März von Oberbürgermeister Peter Kurz. Auch 20 Bürger aus St. Dié in Lothringen, der Heimat der französischen Opfer, reisen an – darunter die Angehörige eines Ermordeten, weit über 80 Jahre alt.
Der Gedenkfeier in St. Aegidius folgt die Enthüllung der Gedenktafel: Sie liegt am Fuße des Kalvarienberges, dem vom Dossenwaldverein am Rangierbahnhof gestalteten Kreuzweg. Welch eine Symbolik!
Opfer und Täter eines 75 Jahre zurückliegenden Verbrechens
- Bei den Opfern handelt es sich um 18 Fremd- und Zwangsarbeiter, darunter sechs Franzosen, die übrigen Osteuropäer (Russen, Polen).
- Vier Franzosen sind namentlich bekannt: Henri Diebold (42 Jahre), Henri Arthaud (33), Robert Brossy (45) und Marcel Hubert (35).
- Bestattet wurden die meisten Ermordeten auf der Rheinauer Seite der Eisenbahnbrücke. Henri Diebold wurde auf dem Rheinauer Friedhof beigesetzt und später in seine Heimatstadt St. Dié überführt.
- Täter waren Angehörige der Feldpolizei, der Militärpolizei der Wehrmacht. Wegen der Kette aus Metall, die sie um den Hals trugen, waren sie als „Kettenhunde“ berüchtigt.
- An dem Verbrechen am Rangierbahnhof waren laut Peter Koppenhöfer aus ihren Reihen zehn bis zwölf Täter beteiligt. Sie stammten allerdings nicht aus Seckenheim.
- Ihre Identität ist jedoch unbekannt. Juristische Folgen hatten ihre Taten nicht. Bis heute bleibt das Verbrechen ungesühnt – wie so viele.
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