Mannheim. „Meine Mutter war jetzt Witwe. Und ich hatte meinen Papa verloren“, beklagt Andrée Diebold, heute 89 Jahre alt. „Wir hatten es schwer, mit dieser Leere zu leben. Und nach 77 Jahren fällt es mir immer noch schwer, darüber zu sprechen.“
Andrée Diebold ist zwölf Jahre alt, als ihr Vater Henri am Mannheimer Rangierbahnhof ermordet wird. Einer von mindestens 18 ausländischen Arbeitskräften, die noch Ende März 1945, wenige Tage vor der Befreiung der Quadratestadt, fanatischen Nationalsozialisten zum Opfer fallen. Er ist gerade mal 41 Jahre alt.
Die vorgetragene Erinnerung seiner Tochter bildet den bewegenden Höhepunkt einer Veranstaltung, die an der 2020 vor Ort errichteten Gedenkstätte an das lange vergessene Verbrechen erinnert. Aufgearbeitet von Peter Koppenhöfer, der sich seit Jahrzehnten mit dieser Thematik intensiv beschäftigt, sich etwa in den 1980er Jahren für die KZ-Gedenkstätte in Sandhofen engagiert.
Auf dem Seckenheimer Rangierbahnhof stehen an die 1000 Güterwagen. Gefüllt mit Lebensmitteln wie Mehl, Zucker, Grieß und Nudeln, aber auch Briketts.
Sein Blick führt zurück an den 27. März 1945, den Dienstag der Karwoche. Im Berliner Führerbunker sieht Diktator Hitler seinem Ende und dem des Landes entgegen. Immer mehr davon wird seiner Herrschaft entrissen, von den Alliierten befreit. In Mannheim gelangen die Amerikaner über den Norden in die Quadrate, aber noch beherrscht die Wehrmacht den Süden der Stadt.
Auf dem Seckenheimer Rangierbahnhof stehen an die 1000 Güterwagen, die wegen der Kriegslage nicht weiterkommen. Gefüllt mit Lebensmitteln wie Mehl, Zucker, Grieß und Nudeln, aber auch Briketts. „Da haben sie Schuhe gehabt, Zucker und Mehl“, heißt es in einem Augenzeugenbericht des Seckenheimers Emil Schmitt, Jahrgang 1933: „Da haben wir mitgekriegt, dass man da Sachen holen kann.“ Gefühlt ganz Seckenheim und Rheinau sind auf den Beinen. Sogar vom Lindenhof kommen Leute mit Leiterwagen. Tausende.
Bei Todesstrafe verboten
Eine legendäre Plünderung. Doch dieser Begriff ist eigentlich unlauter; denn hier wird nicht geplündert im Sinne von sich bereichern; hier versuchen verzweifelte, weil hungernde Menschen, Lebensmittel für sich und ihre Familien zu organisieren.
Dazu gehören auch Fremd- und Zwangsarbeiter, die in einem Lager nahe dem Rangierbahnhof untergebracht sind. Aus vielen von den Nazis unterjochten Nationen. Manche werden von den Landwirten, denen sie zugeteilt sind, ausdrücklich geschickt, um für diese die begehrten Güter aus den Waggons zu holen. Denn das Ganze ist lebensgefährlich. „Plündern“ ist bei Todesstrafe verboten. Und das wird vom Regime auch nach wie vor hart geahndet.
Doch während die deutschen Plünderer zumeist laufen gelassen werden, werden die Fremdarbeiter aus der Menge geholt, angesprochen, und, wenn man sie an der Sprache als Ausländer erkennt, erschossen. Mindestens 18 Menschen sterben damals auf diese Weise. Einer versucht, sich zu retten. „Der hat sich unter das Rad gekauert“, heißt es in dem Augenzeugenbericht: „Der vom Lautsprecher hat das gesehen und hat einen Soldaten hin dirigiert. Und dann ein Schuss.“
Täter sind Angehörige der Feldgendarmerie, also der Militärpolizei, die hinter der Front für Terror sorgt und selbst innerhalb der Wehrmacht als „Kettenhunde“ berüchtigt ist. Kurz darauf, so vermutet Koppenhöfer, begehen die Mörder von Seckenheim auf dem Heidelberger Güterbahnhof die gleichen Taten.
Ihrer irdischen Verantwortung müssen sich die Täter von damals niemals stellen, nicht einmal ihre Namen sind bekannt. Doch selbst wenn: Bei einem ähnlichen Vorfall auf dem Kasseler Bahnhof Wilhelmshöhe werden 78 Italiener erschossen; der Kommandant dieses Verbrechens erhält 1949 eine Haftstrafe von zwei Jahren - für 78 ausgelöschte Menschenleben! „Das war eben deutsche Nachkriegsjustiz“, kommentiert Koppenhöfer bitter.
Auch das Gedenken vor Ort wird lange nicht gepflegt. Es ist Koppenhöfer, der die Sache engagiert erforscht. Im Vorfeld des 75. Jahrestags dieses Verbrechens und des Kriegsendes an sich ergreifen er und Wilhelm Stamm, der Vorsitzende des Historischen Vereins Seckenheim, 2020 die Initiative für eine Gedenkstätte. Und im Gegensatz zu anderen Orten, die solche Geschehnisse eher bedeckt halten, finden sie in Seckenheim Unterstützung, vor allem beim Heimatmuseumsverein unter Vorsitz von Traudel Gersbach.
Ihrer irdischen Verantwortung müssen sich die Täter von damals niemals stellen, nicht einmal ihre Namen sind bekannt.
Die Heinrich-Vetter-Stiftung finanziert den Gedenkstein; er steht nahe dem vom Dossenwaldverein gestalteten Ökumenischen Kreuzweg - welch eine Symbolik! Auch darüber hinaus: In dem Gedenkhain gibt es zwischen den einzelnen Namenssteinen Lücken - so wie in unserem Wissen über das Geschehen. Man weiß zwar von 18 Ermordeten. Doch, so vermutet Koppenhöfer, ihre Zahl ist wahrscheinlich sogar höher. Die Mehrzahl sind Ukrainer, lediglich drei von ihnen sind namentlich bekannt, einer nur mit dem Vornamen.
"Heute sind wir Verbündete und Freunde"
Besser aufgearbeitet ist das Schicksal der Franzosen, vor allem aus dem Vogesendorf Saint Dié. Hier besteht sogar eine „Vereinigung der Deportierten von Mannheim und deren Nachkommen“. Deren Vertreter sind - neben Stadträtin Nina Wellenreuther für die Stadt Mannheim - denn auch anwesend, als Corona-bedingt mit zwei Jahren Verspätung die erste offizielle Gedenkveranstaltung am neuen Mahnmal stattfinden kann - organisiert von der Interessengemeinschaft der Seckenheimer Vereine unter Vorsitz von Jürgen Zink, ebenfalls ein Zeichen für die Verankerung des Projekts vor Ort.
„Im Geiste der Resilienz berührt uns Ihr Projekt“, sagt Marcel Cauvin, der Sekretär der Deportierten-Vereinigung. Und auch die 89-jährige Andrée Diebold bekennt in der von ihm verlesenen Grußbotschaft: „Ich bin sehr gerührt von Ihrem Willen, das Gedenken der Opfer vom Bahnhof von Seckenheim zu ehren.“
„Der Krieg in der Ukraine erinnert uns schmerzhaft daran, dass der Frieden eine Anomalie im Lauf der Geschichte ist“, spannt Colette Dauphin, die Dezernentin für Erinnerung, Kulturerbe und Städtepartnerschaften von Saint-Dié-des-Vosges, den Bogen zu dem Drama unserer Tage: „Wir führen doch häufiger Krieg, als dass wir Frieden schaffen.“ Dennoch müsse dies gelingen, und es könne auch gelingen, betont sie unter Verweis auf die deutsch-französische Aussöhnung: „Heute sind wir Verbündete und Freunde.“
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