Es ist der 15. Juni 1979. Mit meinen Eltern ziehe ich, damals 15 Jahre jung, vom Almenhof auf die Rheinau. Von einer beschaulichen Gartenstadt-Siedlung mit kleinen Straßen, vielen Bäumen und dem 48-er Platz als geselligem Herz in ein von langen Schneisen, Hochbebauung und Industrie geprägtes Quartier. Ein kleiner Kulturschock. Schon die Anfahrt, auf der autobahnähnlichen B 36, war mir dafür symptomatisch.
Mehr als vier Jahrzehnte ist das her und nicht nur deshalb weit weg. Inzwischen nämlich ist die Rheinau mir Heimat geworden, ein Ort, den ich nicht mehr missen möchte. Aber mein Beispiel zeigt in der Tat: Die Rheinau ist nichts für eine Liebe auf den ersten Blick, nicht mal für den zweiten, eher für den dritten oder gar den vierten. Dann aber wird diese Liebe umso unverbrüchlicher. Eine Erfahrung, die man ja zuweilen auch mit Menschen machen kann.
Wer die Rheinau verstehen will, der muss erst vieles lernen. Das fängt schon mit dem Namen an: Keinesfalls wohnt man in Rheinau, sondern auf der Rheinau. Und dann kommt es auch noch darauf an, wo genau. Denn die Rheinau ist kein einheitliches Gebilde. Sie besteht aus fünf Ortsteilen, durch Bahngleise oder Schnellstraßen klar voneinander getrennt und daher mit einem starken Eigenleben: Rheinau-Mitte und der Pfingstberg, das Casterfeld und Rheinau-Süd sowie natürlich der Rheinauhafen. Das sorgt zwar für Vielfalt, erleichtert aber nicht gerade das Vorhandensein eines einheitlichen Stadtteilbewusstseins. Ebenso wie die Entstehungsgeschichte.
Die Rheinau in Zahlen
Der Rheinau ist rund 15,4 Quadratkilometer groß und damit – nach Sandhofen – flächenmäßig der zweitgrößte Stadtteil Mannheims.
Die Bevölkerungszahl liegt bei rund 25 000 Einwohnern. In Rheinau-Mitte sind es etwas mehr als 10 000, in Rheinau-Süd rund 7000, im Casterfeld 6000, auf dem Pfingstberg 1700.
Religion: 31,5 Prozent der Rheinauer, also knapp 8000, sind römisch-katholisch, 20 Prozent, also 5000, evangelisch. Die größte Gruppe im Stadtteil stellen jedoch mit mehr als 48 Prozent die Einwohner ohne oder mit anderer Religionszugehörigkeit; zu nennen ist hierbei vor allem der Islam.
Migration: Knapp die Hälfte der Rheinauer Bevölkerung, exakt 49,8 Prozent, weist einen Migrationshintergrund auf. Bei knapp 18 Prozent davon nennt die Statistik der Stadt Mannheim Polen als „Bezugsland“, gefolgt von der Türkei mit 16,5 und Italien mit 11,5 Prozent. -tin
Nach 1872 entstanden
Denn anders als Sandhofen oder Neckarau ist Rheinau extrem jung, ein Kind der Industriellen Revolution. Entstanden erst nach 1872, als die Chemie-Industrie den hiesigen Rhein-Bogen zum Bau eines Hafens und ihrer Fabriken nutzte. Die erste trug daher den Namen Rheinau-AG. Und dieser übertrug sich auf jene Arbeitersiedlungen, die damals am Rande der Hafenbecken entstanden und den Kern des Stadtteils bilden.
Und den erkennt man bis heute an wunderbaren Gründerzeit-Fassaden etwa in der Stengelhof- oder der Karlsruher Straße. Aber auch moderne Bauten prägen das Ortsbild, etwa das „Rheinauer Tor“ am Eingang der Relaisstraße oder die Kirchen. Etwa St. Konrad mit dem Zuckerhut-förmigen Turm im Casterfeld, vielen Autofahrern auf der B 36 bekannt, oder die Glaskirche auf dem Pfingstberg, entworfen von Stararchitekt Carlfried Mutschler.
Zwischen dem Rangierbahnhof auf dem Pfingstberg, dem drittgrößten Deutschlands, und dem Hafenbecken haben Firmen ihre Heimat, die Weltruf genießen, deren Produkte wir tagtäglich im Haushalt benutzen. Allen voran die „Sunlicht“, wie wir Rheinauer trotz ständig wechselnder englischer Bezeichnungen sagen. Bis in die 1980er Jahre arbeitete hier auch die Zündholz-Fabrik; sie produzierte Streichhölzer in ihren legendären kleinen Schachteln.
Aber: Neben Industrieanlagen und Gründerzeit-Häuserzeilen liegen am Rande die Siedlungen aus den 1920er und 1930er Jahren: Pfingstberg, Casterfeld, Rheinau-Süd. Statt Hinterhöfen im Ortskern gibt es hier Grundstücke mit bis zu 1000 Quadratmetern und malerischen Gärten oder gar mit Blick auf einen See.
Geweckt werde ich morgens in Rheinau-Süd nicht von Autolärm, sondern vom Gezwitscher der Vögel. Keine Seltenheit, dass, wenn ich Brötchen hole, mir Enten begegnen, die über den Marktplatz von Rheinau-Süd watscheln, Überhaupt die Natur: Die Riedwiesen, eine echte Auenlandschaft, und der 100 Hektar große Rheinauer Wald. Sieben Rundwanderwege von 49 Kilometern Länge bieten Entspannung und Erholung. Nicht nur bei den Kindern beliebt ist das Wildschweingehege, das bis in die 1990er Jahre sogar Bisons beheimatet hat.
Bekannte Wasserski-Anlage
Hinzu treten die von Menschenhand geschaffenen „grünen Oasen“: Das Naherholungsgebiet Pfingstbergweiher mit seinen gepflegten Spazierwegen, in den 1980er Jahren durch Untertunnelung der Bahntrasse Mannheim-Stuttgart entstanden, oder der Rheinauer See im Süden, einst schlicht ein Kiesloch.
Mensch und Tier, Natur und Sport pflegen hier ein sicher nicht immer einfach auszutarierendes Miteinander. Der westliche Teil beherbergt eine einzigartige und daher überregional bekannte Wasserski-Anlage, der östliche einen öffentlichen Badestrand. Apropos: Im Casterfeld liegt das – nicht ohne Grund so heißende – Parkschwimmbad. Und außerdem: Nicht jeder Stadtteil verfügt über einen eigenen Yachthafen – die Rheinau schon.
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