Ludwigshafen. Der 28. Juli 1948 ist ein ungewöhnlich heißer Tag. Das Thermometer zeigt in Ludwigshafen Temperaturen deutlich jenseits der 30 Grad an. Auf dem Werksgelände der BASF stehen 30 Tonnen Dimethylether, ein Flüssiggas, zur Weiterverarbeitung in einem Kesselwagen bereit. Seit den frühen Morgenstunden knallt die Sonne auf den großen Behälter. Die Katastrophe ereignet sich am Nachmittag. Gegen 15.45 Uhr reißt der Kesselwagen auf, Gas entweicht in Form einer Wolke, eine erste kleine Explosion lässt den Wagen umkippen - und das Inferno nimmt seinen Lauf. Eine verheerende Explosion erschüttert das Werksgelände. Die Druckwelle sorgt für die Freisetzung weiterer Gase und eine Kette von Detonationen. 207 Menschen sterben an diesem Tag. Die Auswirkungen sind weit über das BASF-Gelände hinaus zu spüren.
Eine Duplizität der Ereignisse. Fast auf den Tag genau fünf Jahre zuvor, am 29. Juli 1943, ebenfalls ein heißer Sommertag, explodiert im damaligen I.G.-Farben-Werk eine Gaswolke, nachdem ein mit Butadien beladener Kesselwagen aufgerissen war. 64 Menschen verlieren ihr Leben. Es sind zwei der größten Chemieunglücke der deutschen Geschichte, derer die BASF an diesem Freitag auf dem Hauptfriedhof und dem Friesenheimer Friedhof gedenkt, 75 beziehungsweise 80 Jahre nach den Ereignissen.
BASF-Explosionen 1943 und 1948: Ursachen nicht zweifelsfrei geklärt
Die Parallelen der beiden Unglücke sind unverkennbar. Im Volksmund werden sie beide als Kesselwagenexplosionen bezeichnet. „Das ist zwar geläufig, aber eigentlich nicht zutreffend“, ordnet Susan Becker, BASF-Unternehmenshistorikerin, ein. „Heute sind sich die Experten einig, dass beide Male nicht eine Primär-Explosion ursächlich für die Katastrophe war, sondern das Aufreißen der Behälter“, sagt sie. Die Ursachen dafür haben sich laut Becker bis heute nicht zweifelsfrei rekonstruieren lassen. Man geht davon aus, dass der Kesselwagen im Jahr 1943 zu 15 Prozent überfüllt war, 1948 könnte der Behälter kleiner gewesen sein als ausgewiesen. Außerdem wird in der Nachbetrachtung eine Schwachstelle an einer Schweißnaht vermutet.
Nach beiden Unglücken ziehen Unternehmen und Behörden Konsequenzen, berichtet Becker. Die Sicherheitsvorkehrungen seien deutlich angepasst worden. Und doch unterscheidet sich der Umgang mit den Katastrophen damals deutlich. Denn die Explosion vor 80 Jahren ereignet sich mitten im Zweiten Weltkrieg. Durch das Nazi-Regime sei sofort ein Geheimhaltungsgebot verhängt worden. „Das hatte militärstrategische Gründe, man wollte den Feind nichts von dem Unglück wissen lassen“, sagt Becker, die sich ausgiebig mit der Aufarbeitung des Unfalls beschäftigt hat. Durch die wenig später einsetzenden Luftangriffe sei das durch die Gasexplosion verursachte Leid zusätzlich in den Hintergrund gedrängt worden.
Gasexplosion 1943: Tote Zwangsarbeiter nachträglich identifiziert
„Das Unglück hat kaum Eingang in die Archive gefunden“, berichtet die Historikerin. Auch eine finale Totenliste gebe es nicht. Bei ihren Recherchen sei es Becker aber gelungen, 14 von 17 damals zu Tode gekommenen Zwangsarbeitern zu identifizieren. Auch Augenzeugenberichte fördert sie zutage. So berichtet etwa der Chemiker Georg N.: „Wir beobachteten in Richtung Aluminiumchloridfabrik vom Boden aufsteigende starke Nebelbildung, gleichzeitig war ein starkes Zischen zu hören, das sich anhörte, als ob aus einer Hochdruckleitung Gas entströmt. Etwa zehn Sekunden später erfolgte eine Detonation, die uns in weißen Rauch hüllte und uns zu Boden warf. Im Bau 134 gab es viele Verwundete, die zum Teil blutend in den Keller stürzten. Auf die Detonation folgten weitere, jedoch weniger heftige Explosionen, und noch eine halbe Stunde später stiegen gewaltige Feuersäulen auf.“
Ganz anders die Öffentlichkeit fünf Jahre später. In einer Zeit, die durch den Kalten Krieg geprägt ist, erfährt das Unglück ein gigantisches Medienecho. Hoffnung und Angst prallen aufeinander. Auf der einen Seite löst die Katastrophe eine schier beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft aus, über Stadt und Ländergrenzen hinaus. Auf der anderen Seite werden Gerüchte verbreitet, dass es sich um einen sowjetischen Sprengstoff-Anschlag gehandelt habe.
Mehr als 3800 Verletzte bei BASF-Unglück 1948
Nach der Explosion des Oppauer Stickstoffwerks im Jahr 1921 mit mehr als 550 Toten ist das Unglück 1948 das zweitgrößte beim Ludwigshafener Chemiekonzern. Neben den 207 Toten werden mehr als 3800 Menschen verletzt, viele davon erblinden durch die freigesetzten Gase, mehr als 3000 Gebäude werden in Mitleidenschaft gezogen. Ganze Produktionshallen stürzen in sich zusammen. Auch noch jenseits des Rheins werden in Mannheim Hunderte Häuser beschädigt. Tagelang suchen etwa 1000 Feuerwehrleute sowie französische und amerikanische Besatzungssoldaten in den Trümmern nach Überlebenden.
Auch eine Heldengeschichte schreibt das Unglück von 1948. Der amerikanische Sergeant William McKee schiebt mit einem Bulldozer weitere Kesselwagen aus der Gefahrenzone, um weitere Explosionen zu verhindern. „Das ist durch ein Foto belegt. Er hat damals noch Schlimmeres verhindert“, sagt Becker.
Doch wie wahrscheinlich ist es, dass sich ein solches Unglück heutzutage wiederholen kann? „Theoretisch kann alles passieren“, sagt Thomas Hill, Gefahrgutbeauftragter des BASF-Standorts Ludwigshafen. „Mit den heutigen Sicherheitsstandards würde ich von einer solchen Katastrophe aber nicht mehr ausgehen.“ So seien die Sicherheitssysteme heute so ausgelegt, dass menschliche Fehler in die Risikobetrachtung mit einbezogen würden.
BASF-Historikerin: „Damals ein neues Phänomen“
Daneben werden Kesselwagen heute mehrfach gewogen, sowohl digital beim Befüllen als auch danach noch einmal separat auf einer Kontrollwaage. „Bei Diskrepanzen wird sofort korrigiert“, so Hill. Inzwischen gebe es zudem Kesselwagen mit Sonnendach sowie deutlich verbesserter Isolierung und Durchlüftung. Daneben dürfen keine befüllten Kesselwagen mehr über einen längeren Zeitraum auf dem Werksgelände stehen.
Dass es ohne Sprengstoff zu solch verheerenden Explosionen kommen kann, habe 1943 alle überrascht. „Das war damals ein neues Phänomen“, sagt Susan Becker. Warum vor 75 Jahren so viel mehr Menschen starben als vor 80 Jahren, sei nicht erklärbar. Denn das Ausmaß der totalen Beschädigung in einem Kerngebiet von 200 Metern sei in beiden Fällen sehr ähnlich gewesen. Wie so vieles an diesen beiden heißen Sommertagen in den Jahren 1943 und 1948, die sich für immer in die Geschichte des Unternehmens und der Region einbrennen sollten.
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