Ludwigshafen. Die Narbe wird Marcel Kling für immer daran erinnern. An den Moment, der alles verändert hat. An den Tag, an dem er zum Überlebenden wurde. An den Mann, der ihm das angetan hat. Leuchtend rot verläuft das Wundmal dicht unter seinem Schlüsselbein. Dort, wo ein Messer in seinen Körper eingedrungen ist, eine Arterie und die Lunge verletzte. Hineingerammt in tödlicher Absicht. Marcel Kling sollte am 18. Oktober 2022 sterben.
Oggersheim - das ist für den 27-Jährigen Heimat. Er wächst im größten Ludwigshafener Stadtteil auf, fühlt sich dort wohl. Am Rossmann in der Comeniusstraße kommt er täglich vorbei, häufig geht er dort einkaufen. So auch an jenem Dienstag im Oktober. Er hat einen freien Tag, muss noch Weichspüler besorgen, ein kleines Geschenk für seinen Neffen, der Geburtstag hat. Er steht in der Reihe an der Kasse, als ihn ein Unbekannter antippt. Der Mann fragt ihn nach seiner Nationalität. Als er erwidert, er sei Deutscher, rammt er ihm das Messer in den Oberkörper. Für Kling beginnt ein Kampf ums Überleben.
Auf einer Bank zusammengebrochen
Instinktiv wendet er sich ab, schleppt sich aus dem Laden, auf einer Bank bricht er zusammen. Passanten drücken die stark blutende Wunde ab. Irgendwann verlassen ihn die Sinne, er sieht nichts mehr, doch das Stimmengewirr nimmt er noch wahr. „Dableiben, dableiben!“ Eine turbulente Fahrt ins Krankenhaus, Deckenlampen, die vorbeisausen. Schemenhaft erinnert er sich. „Defibrillator, drei Mal“.
Marcel Kling läuft durch ein kleines Waldstück im Ludwigshafener Stadtteil Gartenstadt. Sechs Monate sind seit der Tat vergangen, die bis heute so viele Fragen aufwirft, bei der zwei Menschen scheinbar willkürlich getötet wurden. Der mutmaßliche Täter, ein 26-jähriger Somalier, muss sich seit Februar wegen Mordes und versuchten Mordes vor dem Frankenthaler Landgericht verantworten. „Ich hatte eine Nahtoderfahrung“, sagt der 27-Jährige im Gespräch mit dieser Redaktion. Ein Erlebnis, das sich nicht einfach abschütteln lässt. Der 18. Oktober hat Spuren bei Marcel Kling hinterlassen, nicht nur die äußerlichen auf der Haut.
Aus Oggersheim weggezogen
Der 27-Jährige ist mit seiner Frau umgezogen, weg von Oggersheim in die Gartenstadt. Die täglichen Wege vorbei an der Rossmann-Filiale hätte er nicht ertragen. „Das habe ich sofort gemerkt, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und wieder nach Hause konnte.“ Im einst so vertrauten Umfeld lauern mit einem Mal nur noch schreckliche Erinnerungen auf ihn. Seine Heimat wurde ihm genommen.
Am neuen Wohnort in der Gartenstadt geht es ruhiger zu. Doch die Schlafstörungen suchen ihn auch hier heim. „Es gibt Nächte, in denen schlafe ich überhaupt nicht. Der Kopf ist leer, aber das Unterbewusstsein arbeitet. Und ich schlafe einfach nicht ein“, berichtet er. Das alles sei Teil des Heilungsprozesses, sagen seine Therapeuten.
Sein Zustand schwanke von Tag zu Tag, so Kling. „Es gibt Tage, da gehe ich gar nicht raus.“ Insbesondere Menschenansammlungen rufen noch ein ungutes Gefühl in ihm hervor. Er ist ständig in Habacht-Stellung. „Wer ist hinter mir, wer neben mir? Mein Vertrauen zu Menschen ist gebrochen“, sagt er. Den extrovertierten, offenen Marcel Kling gibt es nicht mehr.
Oggersheimer Bluttat
- Am 18. Oktober attackiert ein Mann in der Philipp-Scheidemann-Straße in Oggersheim zwei Mitarbeiter eines Handwerksbetriebs mit einem Messer. Jonas Sprengart (20) und sein Kollege Sascha (35) sterben noch vor Ort.
- Anschließend geht der Angreifer in die rund 500 Meter entfernte Comeniusstraße. In einer Rossmann-Filiale greift er Marcel Kling (27) an.
- Ein Polizist schießt den Täter nieder, als dieser mit dem Messer auf ihn zu rennt.
- Seit Februar muss sich ein 26 Jahre alter Somalier vor dem Frankenthaler Landgericht wegen Mordes und versuchten Mordes verantworten. Die Taten hat er eingeräumt.
- Der Prozess wird am Montag, 8. Mai, 9 Uhr, fortgesetzt.
So war es für Marcel Kling, den Angeklagten wiederzusehen
In dem Drogeriemarkt sei alles so furchtbar schnell gegangen. So richtig realisiert habe er das Geschehene erst im Krankenhaus, als er wieder aufgewacht sei. Dass der Angreifer vor dem Messerstich im Rossmann bereits zwei Menschen getötet hat, erfährt Kling erst zu diesem Zeitpunkt. Umso unbegreiflicher ist es ihm, wie ruhig der Mann war, als er ihn angesprochen hat.
Den mutmaßlichen Täter im Gerichtssaal wiederzusehen, sei mental sehr schwierig gewesen. „Ich habe ihm direkt ins Gesicht geschaut, weil ich sehen wollte, wie er reagiert“, berichtet Kling. Bis heute sei es jedes Mal eine Überwindung, zu den Verhandlungstagen zu kommen. „Aber ich brauche das für meine persönliche Aufarbeitung“, sagt er. „Ich hoffe, dass er seine gerechte Strafe bekommt. Auch wenn es die eigentlich gar nicht gibt.“
Im vergangenen Dezember sollte Marcel Kling eigentlich einen neuen Job bei der BASF beginnen. Da er sich bei dieser Arbeit aber auch körperlich hätte betätigen müssen, platzte das Ganze. Von seinem vorherigen Arbeitgeber, einem Inkassounternehmen, hat er sich einvernehmlich getrennt. Nach einer längeren Krankschreibung ist er jetzt aktiv auf Jobsuche. „Jetzt geht es wieder von Null los“, sagt er.
Frau und Familie helfen bei der Verarbeitung
Drei Jahre könnte es dauern, bis die Folgen seiner körperlichen Verletzungen verschwunden sind. Den linken Arm kann er noch nicht wieder bewegen wie zuvor. Schwer heben kann er damit erst recht nicht. Auch Laufen bedeutet für ihn eine Anstrengung, nach dem Treppensteigen braucht er erstmal ein paar Minuten Pause. „Das ist für mich sehr belastend, weil ich eigentlich immer viel Sport getrieben habe“, sagt Kling.
Noch länger könnte es dauern, bis die innerlichen Verletzungen geheilt sind. Seine Frau und seine Familie helfen ihm dabei, das Erlebte zu verarbeiten und nach vorne zu schauen. Sie geben ihm Kraft. Auch die Therapie bringe schon erste Erfolge. „Ich habe Fortschritte gemacht, es ist schon nicht mehr so belastend wie am Anfang“, sagt er. Ganz aus dem Gedächtnis verschwinden wird der 18. Oktober 2022 jedoch nicht. „Ich werde immer damit konfrontiert sein, sobald ich in den Spiegel schaue.“ Die Narbe ist nun ein Teil von ihm.
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