Heidelberg. Sie halten Kerzen in der Hand, einzelne weiße oder auch bunte. Grablichter und Duftkerzen im Glas sind zu sehen. Die meisten Studierenden kommen in kleinen Gruppen, bilden einen unsichtbaren Schutzwall um sich. Einige nehmen sich an die Hand oder umarmen sich. Andere weinen, und alle schauen traurig oder fassungslos. Am Tag, nachdem ein 18-jähriger Student mit zwei Langwaffen in einen Lehrsaal auf dem Heidelberger Campus stürmte und das Feuer eröffnete, hat sich über das sonst so belebte Uni-Viertel Trauer gelegt.
Die Universität plant für Montag, 31. Januar, eine Gedenkfeier in der Heidelberger Peterskirche. Die Kriminalpolizei hat eine 32-köpfige Ermittlungsgruppe mit dem Namen „Botanik“ gegründet. Sie soll unter anderem klären, woher die beiden Langwaffen stammen, mit denen der 18-jährige mutmaßliche Amok-Täter am Montagmittag in den Hörsaal der Universität stürmte. Mit einer Flinte schoss er auf vier Studierende – eine 23-Jährige erlag später im Universitätsklinikum ihren schweren Verletzungen. Drei weitere Verletzte konnten inzwischen das Krankenhaus verlassen. Der Täter flüchtete und erschoss sich kurz darauf im Außenbereich des Seminargebäudes.
„Bis ins Mark erschüttert“
Gegenüber des Gebäudes INF 360, in dem das Verbrechen geschah, bei dem eine 23-Jährige starb und zwei Mitstudentinnen und ein Kommilitone verletzt wurden, stehen die brennenden Kerzen zwischen Sträußen von Blumen. Tulpen, Christrosen und rote Rosen sind zu sehen. 12.25 Uhr – um diese Uhrzeit war der in Mannheim lebende Biologiestudent in den Raum gestürmt, wo rund 30 Mitstudierende an einem Kurs für Biochemie teilnahmen. Später flüchtete der Täter und erschoss sich im Außenbereich des Instituts selbst. In seinem Rucksack fanden die Ermittler später 100 Schuss Munition.
Das Unigebäude INF 360 selbst ist abgeriegelt. Ermittler sichern drinnen weiter Spuren und tragen Kartons in einen vor den Glastüren abgestellten Transporter. Ein Dozent spricht leise mit fünf Studierenden, die um ihn im Halbkreis stehen.
„Wir alle sind entsetzt über das unfassbare Geschehen, das sich am Montag abgespielt hat“, formuliert Oberbürgermeister Eckart Würzner am Dienstag. „Diese unvorstellbare Tat geschah auf dem Universitätscampus, wo das Herz der Wissenschaftsstadt Heidelberg schlägt. Ein solches Verbrechen gegen die friedliche Gemeinschaft aus Lehrenden und Lernenden lässt uns fassungslos zurück. In Heidelberg sind Stadt und Universität auf das Engste und untrennbar verbunden. Ein Angriff auf die akademische Gemeinschaft ist ein Angriff gegen uns alle. Wir werden als Stadtgesellschaft zusammenstehen und Hass und Gewalt immer unsere Prinzipien entgegenhalten: Offenheit, Freiheit, Toleranz“, fügt Würzner hinzu.
Vor fünf Jahren Amok-Fahrt auf dem Bismarckplatz
- Die Amok-Tat am Montag im Hörsaal der Heidelberger Universität lässt bei manchen die Erinnerung an ein schreckliches Ereignis vor fast genau fünf Jahren hochkommen: Am 25. Februar 2017 raste ein psychisch Kranker mit einem geliehenen Auto auf den Bismarckplatz und tötete einen 73-Jährigen. Das Opfer wartete genauso wie zwei Menschen, die verletzt wurden, vor einer Bäckerei.
- Als der Wagen stand, hielt der 35-Jährige ein paar Minuten inne. Dann nahm er ein verhülltes Messer vom Beifahrersitz und packte es aus. Damit drohend, stieg er aus und lief in Richtung Bergheimer Straße. Zeugen verfolgten ihn und stoppten einen Streifenwagen. Vor einem Hotel rannte der 35-Jährige mit dem Messer in der Hand auf einen Polizeibeamten zu. Nach einem Schuss in den Bauch sackte er zusammen und wurde festgenommen. Weil er schuldunfähig war, wurde er in einer Psychiatrie untergebracht.
„Diesem Angriff auf unser akademisches Selbstverständnis stellt sich die Ruperto Carola als Gemeinschaft entgegen“, betont auch der Rektor der Heidelberger Universität, Bernhard Eitel: „Mit großer Dankbarkeit erfahren wir eine überwältigende Zahl von Bekundungen und Zeichen der Anteilnahme.“ Die Tat ereignete sich im Gebäude (INF 360) des Centre for Organismal Studies (COS), einer zentralen wissenschaftlichen Einrichtung der Universität. „Wir sind bis ins Mark erschüttert und aufgewühlt“, ist der geschäftsführende Direktor des COS, Jan Lohmann, in Gedanken bei „den vielen Menschen, die von dieser schrecklichen Tat direkt oder indirekt betroffen sind: die Verletzten und Teilnehmer der Lehrveranstaltung, unsere Freunde und Kollegen in INF 360, die zum Teil unmittelbar Zeugen des Verbrechens wurden, sowie die Studierenden des Jahrgangs, aus deren Mitte Opfer wie Täter kommen.“
Die Universität bereitet eine Trauerfeier vor, die am kommenden Montag um die Mittagszeit in der Peterskirche stattfinden soll und im Livestream übertragen wird. Auf der Internetseite der Uni sind Adressen von Hilfs- und Beratungsangeboten zusammengestellt, möchte die Hochschule den vom Geschehen Traumatisierten „umfängliche psychologische Begleitung bieten“.
Spontane Prozession
12.30 Uhr am Dienstag: Zur gleichen Tageszeit, in der 24 Stunden zuvor in einem Hörsaal geschossen wurde, stehen Studierende spontan auch zu Trauerminuten vor der Zentralmensa im Halbkreis. Es ist das Herz des Campus im Neuenheimer Feld. Auch hier liegen viele Blumen und Kerzen. Viele Studierende sind schwarz gekleidet. Kaum jemand spricht, und wenn, dann wird mehr oder weniger geflüstert. Anders als sonst ist nun kaum ein Handy zu sehen – weder als Fotoapparat verwendet, noch als Telefon genutzt. Die Gemeinschaft der Studierenden – hier ist sie in aller Traurigkeit spürbar.
In kleinen Gruppen laufen einige Menschen den Fußweg hinüber zum Tatort von Montag, zwischen Botanischem Garten und Mensa entlang. Auch hier brennen viele Kerzen, die vorsichtig in den Händen gehalten werden. Es wirkt wie eine Trauerprozession.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Nach Amoklauf in Heidelberg: Tröstende Gemeinschaft