Schifferstadt/Speyer. Während die Kurpfalz diesen Text liest, befindet sich der 28-jährige Patrick Münz aus dem pfälzischen Schifferstadt auf einer der wohl gefährlichsten Missionen, die es aktuell auf der Welt gibt. Der junge Mann, der zwischenzeitlich in Speyer zu Hause war, befindet sich in diesen Stunden wahrscheinlich schon auf dem Weg von Lemberg im Westen der Ukraine Richtung Kramatorsk, das zum Zeitpunkt des Gesprächs am Dienstagvormmitag noch etwa 30 Kilometer von der Frontlinie der Russen im Donbass entfernt liegt. Gemeinsam mit einem Kollegen der Hilfsorganisation „Leave no one behind“ und zwei ukrainischen Begleitern will Münz innerhalb von 20 Stunden eine etwa 2000 Kilometer lange Strecke zurücklegen und dabei darauf achten, dass die Hilfskolonne nicht zu einem Konvoi wird, der von russischen Drohnen als Bedrohung wahrgenommen und anschließend beschossen werden könnte.
Es ist nicht der erste Trip, den Münz seit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung in der Ukraine vor 55 Tagen in dem Land unternimmt. Vor einigen Tagen war er nördlich von Kiew, um neun Vertriebene zu retten und an einen sicheren Ort zu bringen. Insgesamt haben er und seine unmittelbaren Kollegen weit über 300 Menschen leibhaftig aus der Ukraine gerettet. Weit über 500 Tonnen an Hilfsgütern haben sie an neuralgischen Punkten abgeliefert und eine Infrastruktur zur Verteilung bei Lemberg errichtet.
Die Hilfskamapagnen Stelp und #Leavenoonebehind
- Patrick Münz ist für mehrere Hilfsorganisationen und Kampagnen gleichzeitig unterwegs. Er arbeitet als Head of Greece für Stelp und ist auf Lesbos auch Repräsentant für die Kampagne #leavenoonebehind (Lasst niemanden zurück).
- Stelp e.V. ist eine zivile Hilfsorganisation aus Stuttgart, die mit einem Netzwerk von Ehrenamtlichen, Partnern und Sponsoren dort unterstützt, wo die Not am größten ist. In den vergangenen Wochen hat Stelp e.V. nach Angaben von Patrick Münz neben Sachspenden für weit über 800 000 Euro Hilfsgüter zugekauft und in der Ukraine direkt übergeben – darunter vor allem Medikamente und Lebensmittel.
- #leavenoonebehind wendet sich gegen unmenschliche Zustände in den Lagern von Geflüchteten in Griechenland und anderswo. Seit Beginn der Corona-Krise fordert die Kampagne das Recht auf eine würdige Unterkunft, Zugang zu Wasser, sanitären Einrichtungen und medizinische Grundversorgung.
Dass Artillerie-Geschosse in den Nächten auch schon 100 Meter neben ihm in den Boden krachten, erzählt Münz vergleichsweise emotionslos. „Meine Angst hält sich in Grenzen“, sagt einer, der zuletzt zwei Jahre in Griechenland an der europäischen Außengrenze studiert hat, wie ungerecht der Umgang mit Menschen unterschiedlicher Herkunft sein kann. Dagegen vorzugehen, begreift er als seine Pflicht. „Für mich ist das ähnlich wie bei einem Autounfall. Ich muss den Menschen helfen“, sagt er selbst zu seiner Motivation.
Aktuell gilt sein Augenmerk den vulnerablen Gruppen in der Ukraine. Zweijährige Kids waren zuletzt genauso seine Fahrgäste wie ein 92-jähriger Greis.
Gepanzerte Fahrzeuge nötig
Viele Details kann der Stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Stuttgarter Hilfsorganisation „Stelp“ (Stuttgart helps) am Montag nicht verraten. Nur soviel: Ein mit Hilfe von Politikern auf den Weg geschickter Transport mit Hilfsgütern soll am Dienstagabend Lemberg erreichen. Dort sollen die Waren umgeladen werden. Weiter geht es dann nach Dnjepropetrowsk, wo ukrainische Kollegen mit lokalen Kenntnissen in gepanzerten Lkw warten, um das letzte und gefährlichste Wegstück in Angriff zu nehmen. „Ohne die lokalen Leute hätten wir hier verloren.“ Russen in die Hände zu fallen, würde das Ende bedeuten, sagt Münz über die Gefahr, sich zu verfahren. Die Internetversorgung sei an diesen Orten nicht mehr gewährleistet.
Dass Zeit jetzt eine entscheidende Rolle spielt, weiß Patrick Münz, der sicher ist, dass in drei oder vier Tagen russische Panzer in Kramatorsk und Lyssytschansk einfahren - jene Orte, in denen Menschen derzeit in Kellern und mitunter auch auf der Straße ausharren und um ihr Leben fürchten. Genau dort ist das Ziel von Münz - wenige Kilometer von Donezk und Luhansk entfernt. So skurril wie der Plan einer Entnazifizierung, so skurril sei, dass solche Menschen, die dort der russischen Seite zuneigten, teilweise vor ihren Häusern säßen und Tee tränken, weil sie davon ausgingen, dass ihnen gar nichts passieren könne. Manche verstünden gar nicht, warum da eigentlich einmal Krieg sei, berichtet Münz.
Kritik an EU-Politik
Was genau Krieg bedeutet, erfährt Münz in den Nächten, wenn er in dunklen Häusern bei Gastgebern übernachtet, die Angst vor Raketenbeschuss haben. Auf Böden von Kirchen habe er zuletzt genauso übernachtet wie auf Sitzen von Lkw. „Man hangelt sich so durch“, sagt er. Der Sozialwissenschaftsstudent kennt lebensunwürdige Umstände zur Genüge. Seit zwei Jahren ist er für die Hilfsorganisation „Leave no one behind“ hauptsächlich auf der Insel Lesbos unterwegs. Ein festes Zuhause in Deutschland hat er nicht mehr. Wenn er nach Schifferstadt oder Speyer kommt, übernachtet er bei Freunden. Seinen Aktivismus hat er schon in Jugendjahren entwickelt. „Es ist wichtig, an die richtigen Türen zu klopfen“, hat er beispielsweise gelernt, als er im Bürgermeisterwahlkampf vor einigen Jahren in Schifferstadt auf den heruntergewirtschafteten Status des Jugendzentrums aufmerksam machte. Die Folge sei gewesen, dass die Kandidaten sich das Jugendzentrum im Wahlkampf auf die Fahnen geschrieben hätten. Plötzlich sei wieder Geld investiert worden - Münz’ erster kleiner Erfolg.
Nun macht er auf größere Ungerechtigkeiten aufmerksam. Nachdem das Geflüchteten-Lager Morio im September 2020 abgebrannt war, traf er auf Erik Marquardt, der für Bündnis 90 /Die Grünen im Europaparlament sitzt und dort seit 2019 eine fehlgeleitete Politik zu Flucht, Migration und Menschenrechten kritisiert. Dass der Umgang mit Geflüchteten aus seiner Sicht rassistisch ist, formuliert Münz ohne Umschweife. Seit zwei Jahren würden knapp 2000 Menschen, die vor den Taliban davon laufen, auf Lesbos um Schutz ersuchen, und in der Ukraine schaffe man es, Millionen Flüchtlinge einigermaßen schnell zu verteilen. Letzteres sei wunderschön, aber auch diskriminierend. Er selbst will keinen Unterschied zwischen den Menschen machen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Rassismus in Reinkultur