Zugegeben, zum Liedfest im schönen Hirschberg hat mich ein Freund aus Berlin begleitet. Der gemeinsame Besuch eines Konzerts mit Thomas Quasthoff, Nikola Hillebrand und Alexander Fleischer hat Saiten in meiner Gefühlswelt angeschlagen, die ich noch nicht kannte. Nicht, was man jetzt denken könnte. Nein. Der Typ, also mein Freund aus Berlin, trug einfach eine aufsehenerregende Hose. Die sah aus wie ein Herrenrock. Ein Riesengeschoss von Beinkleid – irgendwas zwischen Haremshose und Einmannzelt. Ganz schick eigentlich. Aber Männer in solchen Aufzügen, das Oberteil war natürlich nicht minder extravagant, kenne ich nur aus Opern. Oder Bayreuth. Aber: Selbst auf dem überspannten, heiligen Grünen Hügel tragen solche Outfits nur Inder und Schwule. Mein Freund ist beides nicht. Soweit er und ich wissen.
Nun also zu den Saiten meiner Gefühlswelt. Ich kenne und mich kennen ja nun ein paar Leute. In Hirschberg war das auch so. Und ich merkte, dass ich mich unbewusst fragte, ob mir die Aufmachung meines Freundes aus Berlin – den ich echt mag, weil er ein richtig netter Kerl ist – eigentlich peinlich sein sollte, darf oder müsste. Ich meine: Es gibt weit und breit – gerade im Klassiksektor – nicht einen von der Norm abweichenden Mann. Nicht mal mich. Und da dachte ich: Mann, bist du spießig! Männer, seid ihr spießig!
Emanzipierte Frauen tragen erst (oder schon?) seit Mitte des 19. Jahrhunderts sogenannte Reformkleidung, zu der auch Hosen gehören. Die Männer sind da noch nicht so weit. Hose. Hemd. Sakko. Das ist seit Jahrzehnten und Jahrhunderten Standard auf Männerparteitagen. Überhaupt: Frauen kämpfen immer für oder gegen etwas. Für Gleichberechtigung. Für Gehalt. Für Sex. Gegen Sexismus. Männer verlagern den Kampf auf den Fußballplatz oder in den Donbass. Ich habe auch den Eindruck, Frauen hinterfragen ihre Rolle seit Jahrhunderten. Männer lehnen sich währenddessen selbstherrlich zurück und reiben sich verwundert die Augen. Dem Feminismus ist nie ein ernstzunehmender Maskulismus gefolgt. Männer sind zurückgeblieben. Die Suffragetten kämpften fürs Wahlrecht. Die Männer für Bier an der Theke.
Okay, wenn man schon alles hat, braucht man für nichts mehr zu kämpfen. Aber Männer, es ist an der Zeit, dass wir uns hinterfragen in unserem Tun, Denken und Kleiden, in unserem Selbstverständnis, Männer zu sein. Um mit Herbert Grönemeyer zu fragen: Wann ist ein Mann ein Mann? Hose. Hemd. Sakko. Und der Mann ist fertig? So einfach ist das?
Lasst uns träumen! Davon, mit leichten Röcken statt schweren Jeans bei 40 Grad Celsius durch die Stadt zu flanieren, den Wind an den Beinen spürend, die Spaghetti-Träger des Shirts sind so spaghettinimäßig, dass wir sie nicht spüren. Die Schuhe sind selbstverständlich so offen wie der Geist. Statt Bier gibt es Holunderlimo, statt Schnitzel einen knackigen Salat mit Tofustreifen. Wir werden gesünder, offener, nachhaltiger, klüger und haben endlich ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt: ein richtig saftiges Steak. Am besten in Hirschberg.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kolumne #mahlzeit Wann ein Mann ein Mann ist
Männer in auffälligen, rockähnlichen Haremshosen und mit extravaganten Oberteilen auf einem kleinen Klassikkonzert in Hirschberg - gibt's nicht? Doch: gibt's. Unser Kolumnist war mit solch einem Exemplar sogar persönlich vor Ort.