Ich glaube, sagt Alya, während sie Tochter Elin im Arm schaukelt und tätschelt, „Wladimirs Russen haben sich in Claus Weselskys Hirn gehackt.“ Elin rülpst. Glitschige weiße Materie kommt aus ihrem Mund geschossen und landet direkt auf meiner Hose. „Oh, sorry“, sagt Alya, während ich mit meinem verrotzten Taschentuch beginne, das Schlimmste zu entfernen. „Ist schon gut“, sage ich, selbst Vater von drei Kindern, die alle schon mal auf meine Hose gekotzt haben, „ich habe Erfahrung mit solchen Dingen.“
Ich frage nach: „Was meinst du mit Weselsky?“ Dann erzählt Alya, dass es doch nicht sein könne, dass der GDL-Chef sonst ganz Deutschland lahmlege, da müsse ein höherer oder tieferer Sinn dahinter stecken – ich solle mir aussuchen, ob höher oder tiefer. Alya meint, dass nur die Russen oder Chinesen oder Inder oder Amerikaner oder eben andere Feinde der europäischen Demokratien ein Interesse daran haben könnten, mit einem Cyber- und Informationskrieg uns den Garaus zu machen. „Ist doch klar, was die wollen“, so Alya: „unsere Gesellschaft destabilisieren, die öffentliche Meinung beeinflussen.“
Ich kann das natürlich nicht Ernst nehmen, was Alya da sagt. So weit ich weiß, gibt es auch noch keine richtigen transhumanistischen Wesen (okay, Taylor Swift und Elon Musk vielleicht), also Verbindungen aus humaner und technischer Materie. Aber Alya lässt nicht locker und sagt vollen Ernstes, pluralistische und demokratische Gesellschaften böten für einen wie Putin viele Angriffsflächen und seien für den russischen Geheimdienst ein gefundenes Fressen. „Wieso sollte ihnen bei Weselsky nicht gelingen, was ihnen bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl gelungen ist! Der Mann tut, was Putin will, und das ist nicht gut für uns“, sagt sie. Genau deswegen hätten sie sich in Weselskys Hirn gehackt.
Züge von Verschwörungstheorien hatte ich bei Alya bislang nie registriert. Sie schien mir immer vollkommen bei Trost, wenn man von den militanten Rachefeldzügen gegen Autofahrer auf Radwegen mal absieht. Aber diese Weselsky-Kiste ist reichlich absurd.
In einem hat sie natürlich recht: Bestimmte Grundzüge des Krieges sind zeitlos. Aber die konkreten Techniken ändern sich aufgrund technologischer Entwicklungen. Nicht nur neue elektronische Waffensysteme einschließlich bewaffneter Drohnen sind ein Beispiel. Auch die Möglichkeiten, die das weltweite Web und Darknet bieten, die für ausgefuchste ITler im Grunde alles möglich machen. Und wenn sich einer ins Fäustchen lacht, dass Deutschlands sowieso schwächelnde Wirtschaft und Industrie durch den Lokführerstreik einen Milliardenschaden erleidet, dann der Irre im Kreml, der auch darauf hofft, dass die Unterlegscheiben für deutsche Marschflugkörper nicht in den Fertigungshallen ankommen.
Nüchtern betrachtet, scheint es mir aber trotzdem wahrscheinlicher, dass nicht die Russen Weselskys Hirn gekapert haben, sondern dass es direkt von autonomen Rechnern der Deutschen Bahn gesteuert wird. Und das hat, wen wundert’s, den Fahrplan seiner Denkprozesse massiv gestört.
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