Zugegeben, es gibt gewichtigere Themen. Wir könnten über den Ukraine-Krieg diskutieren, über Kremlkritiker Alexej Nawalny oder Oleg Orlow, über die Hamas und Israel, über den Krieg im Jemen und 4,3 Millionen Binnenflüchtlinge, über Antisemitismus, Sexismus, Rassismus, über das Klima, das miese Gasthaus, in dem wir gerade essen, und vieles mehr, was die Welt zu einem schlechten, bösen und hässlichen Ort macht.
Bela meint aber, man brauche auch mal eine Auszeit von „all der Weltbedrohung“, sonst würde man verrückt oder depressiv oder beides zugleich, man müsse, sagt er mit traumwandelndem Blick, auch mal über Kunst und Philosophie debattieren dürfen – „zum Beispiel den Untergang der Eleganz“. Offenbar bilden sich Fragezeichen auf meinen Pupillen, denn Bela schaut mich an, als sei ich E.T. Dann sagt er: „Wir müssen ein Kondolenzbuch im Internet anlegen. Athletik und Kraft haben gerade der Noblesse und Kultur den Garaus gemacht. Die Eleganz ist tot. Die Ästheten der Welt werden ins Kondolenzbuch reinschreiben. Weil sie trauern.“
Dass Bela eine Art kurpfälzischer Oscar Wilde ist, war mir immer klar. Aber was sollte das denn nun? „Wovon sprichst du, verdammt noch mal?“ Dann redet Bela von Tennis. Als hätte das was mit Kunst und Philosophie zu tun! Es sprudelt aus ihm heraus. Erstmals seit Beginn der Weltranglisten 1972 sei keiner mehr in den Top 10, der die Rückhand einhändig spiele. Bela atmet schwer.
Siehe oben: Es gibt gewichtigere Themen. Aber in einem hat er Recht. Vergleicht man, wie etwa Roger Federer und Rafael Nadal die Rückhand gespielt haben, so steht da auf der einen Seite ein eleganter Tänzer, der mit einer optimalen Suite an Effacés und Écartés mit Anmut Bälle übers Netz katapultiert, und auf der anderen ein kraftstrotzend wuselnder Pitbull, der sich von links nach rechts stöhnt, einen abrackert und dabei mit ungelenken Hebelbewegungen jeden Ball zurück peitscht – ein höllischer Vorbote transhumanistischer Roboterwesen.
„Vielleicht“, sagt Bela, „lässt sich das ja auf unsere Gesellschaft übertragen.“ Und dann stellt er die These auf, dass auch die Kultur der Kommunikation keine Eleganz und Schattierung mehr kenne, dass niemand mehr einen verbalen Rückhand-Slice spielen könne, der flach abspringt, keinen überraschenden rhetorischen Stopp oder einen argumentativen Lob. „Nur noch Geschmetter, Gedresche und Gestöhne“, sagt Bela, „schau sie dir doch an, die Alcaraze und Zverevs – da spielen Muskeln, aber kein Hirn, keine Kreativität – und schon gar kein Feingefühl für Schönheit.“
„Und du meinst nun“, sage ich, „dass sich die Schönheit der Rückhand Gottes von Federer über die Hässlichkeit des Spiels der anderen erhebt? Schön wird Tennis doch allein kraft seiner Bewegung gegen das bloße Dasein, das nun mal aus beidem besteht, auch dem Hässlichen! Denk doch mal nach, Bela! Mensch!“
Wenn wir nicht gestorben sind, dann diskutieren wir noch heute. Und Bela würde sagen: „Gib zu, es gibt zwar wichtigere Themen, aber kaum welche, die schöner sind.“ Wo er recht hat … siehe oben.
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