Manchmal, und das geht wohl jedem (und jeder) so, wünsche ich mir, ein anderer zu sein. Roger Federer, Beethoven oder Elon Musk. Begabung. Schönheit. Geld. Davon träumt man. Oder eben eine andere zu sein. Das stelle ich mir besonders spannend vor. Wie es wohl ist, eine Frau zu sein, sagen wir Taylor Swift, Oprah Winfrey oder Greta Thunberg? Oder Maria. Wie es wohl ist, eine Schwangerschaft auszutragen, ohne je mit einem Mann geschlafen, sondern eine göttliche Befruchtung erduldet zu haben?
Aber wenn ich ehrlich bin: Marias Leben war wohl kaum so cool wie meins. So weit ich weiß, konnte sie nicht mal Klavier spielen – oder Tennis (Ich weiß: Das gab es beides auch nicht. Ich bin ja nicht doof), und ihr größtes Verdienst war es, eine gesunde Gebärmutter zu haben, in der Jesus rund neun Monate wohnen durfte. Der Rest ist Geschichte. Wir wissen nicht mal, ob Maria gut kochen konnte und Humor hatte. Nein, das wäre nichts für mich.
Das Leben der Anderen, sage ich mir nach einem Moment der Faszination, eine andere zu sein, ist auch nicht besser als meins. Man arbeitet. Man liebt. Man kriegt Geld. Mehr oder weniger. Und zwischen allem versucht man, ein guter Mensch zu sein und dabei ein bisschen Spaß zu haben. Fast spannender ist die Frage, wie viele Weichen wir im Leben gestellt haben, um der zu werden, der wir sind. Was wäre ich etwa geworden, wenn ich mich damals nicht in die Musik verliebt hätte, sondern in Maschinenbau, Quantenmechanik oder Sanitärtechnik. Und hatte ich eine Wahl? Oder hat meine DNA das für mich erledigt? Oder gar (o Gott!) Gott?
Es gibt ja (war es Søren Kierkegaard, der davon sprach?) so etwas wie den Schwindel der Freiheit. Der gaukelt uns vor, wir könnten uns frei entscheiden, ohne auch nur annähernd die Tragweite unserer Entscheidungen zu ermessen. Die Entscheidung, Musik zu studieren, bedeutete ja automatisch, dass mein Mathe- und Physik-Ich untergebuttert werden. Neulich habe ich den Text einer jungen Philosophin gelesen, die meinte, in jedem von uns schlummerten mehrere, ja, viele Ichs, von denen wir uns eines auswählten und die anderen quasi in einem kleinen Tod sterben ließen (nicht weitererzählen, sonst riecht noch die Bestattungsindustrie Lunte und will all die unbenutzten Ichs beerdigen). Also interessant wäre das schon: Detti als Maschinenbauer bei Daimler oder Mahle, als Forscher im Labor oder Rohrverleger in trivialen Reihenhäusern toter Vororte. Wer wäre ich geworden? Wer hätte mich ausgesucht, um eine Familie zu gründen? Wer wären meine Kinder?
Vielleicht kann man das auch als Bereicherung fühlen, dass es da noch mehr gibt, als man selbst ist, dass da noch andere Ichs sind, die wir genauso hätten werden können. Ist das schon der Bereich einer dissoziativen Identitätsstörung? Jemand anderes sein, würde ich sowieso immer nur ganz kurz erleben wollen. Eigentlich fühle ich mich wohl in meiner Haut.
Ich will nicht Greta Thunberg sein. Die kriegt sicher nicht so schöne Briefe wie ich. Von Ihnen! Ach Gott – ich muss die mal beantworten. Ich bin dann mal weg …
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