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Sind Maß und Mitte noch das Zentrum?

Vernünftiges Maßhalten oder fortwährende Übertreibung? Eine ruhige Argumentation erscheint vielfach nicht mehr als Mittel der Wahl. Allein sie aber vermag der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Gemeinwesen gerecht zu werden

Von 
Thomas Groß
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Wer maßvoll und verständig bleibt sowie Ruhe bewahrt, behält am ehesten den Durchblick im Nebel der schnell formulierten Meinungen und Forderungen. © Warnack / dpa

Heinrich von Kleist könnte beinahe ein Autor der Stunde sein. Für Maßlosigkeit, Exzentrik und Extreme steht er und verkörpert damit ein Gegenteil der klassischen Ideale Maß und Harmonie, die auch ein Leitbild der Weimarer Klassik waren. Kleist selbst wie viele seiner Figuren - Michael Kohlhaas, der Prinz von Homburg oder die Amazonenkönigin Penthesilea - sind Grenzgänger oder überschreiten Grenzen, weil sie sich ins angedachte Maß weder fügen können noch wollen. Voller Zweifel sind sie und erleben die Welt als brüchig. Anders als offenbar bei vielen Menschen heute ist das bei ihnen allerdings oft die Folge einer als instabil erlebten persönlichen Identität.

Heute werden Sätze oft knapp und einfach formuliert

Heute dagegen scheint Selbstgewissheit häufig auch dann das Auftreten zu bestimmen, wenn eine Meinung auf recht dünner Wissensbasis beruht. Als Lieblingslektüre kommt der Dichter Kleist für viele wohl auch deshalb nicht infrage, weil seine Sprache kompliziert wirkt und komplex ist. Das entspricht einer auch schon zu seinen Lebzeiten verworren scheinenden Welt. Heute aber, da das allgemeine Bewusstsein für die Komplexität von Welt und Gesellschaftsleben eigentlich noch stark gewachsen ist, werden die Sätze oft knapp und einfach. Und es werden auf diese Weise vielfach eher schlichte Forderungen formuliert - oder auch nur, neudeutsch gesagt: rausgehauen.

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Das ist ein Charakteristikum des Populismus. Es greift wie dieser insgesamt aber meistens zu kurz. Und obgleich das alles andere als eine exklusive Einsicht ist, scheinen sich viele Zeitgenossen weiterhin auf die beschriebene Art auszulassen. Oder täuscht der Blick in soziale Medien, Talkshows und einige Kommentarspalten? Führt der Eindruck mancher Parlamentsdebatten in die Irre? Begründet ist auch die zuweilen vernehmliche Warnung vor einer Verrohung der Sitten. Denn dass eine Übermacht der Affekte nicht guttut und den Gemeinsinn nicht nur gesamtatmosphärisch belastet, sollte doch verständlich sein.

Ist die Lage wirklich so schlecht?

Was wird diesem Land nicht alles lautstark nachgesagt! Dass es in allem hinterherhinkt und droht, den Anschluss zu verpassen, ist da noch eine gemäßigte Formulierung. Beherzter heißt es, es verarme, schaffe sich ab und alles gehe den Bach runter. Aber tut es das wirklich? Wo die Worte (zu) schnell bei der Hand sind, haben auch rhetorische Mittel einen Platz; das derzeit vorherrschende dürfte dabei das der Übertreibung sein, die Hyperbel. Hyperbolische Reden sind überall zu vernehmen. Rhetorik aber ist nicht nur unterhaltsam und manchmal wohltuend, sie dient einem bestimmten Zweck. Deshalb muss man auch fragen, wer aus ihr den eigentlichen Nutzen zieht - und zu wessen Nachteil sie sich auswirkt.

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Wer selbst kein Sprachrohr hat, dem nützt sie jedenfalls wenig. Und wenn insgesamt das Maß abhandenkommt, ist es umso wichtiger, an dessen Bedeutung und die Rolle einer ausgleichenden Vernunft zu erinnern. Im Argen liegt hierzulande jetzt wie schon zu früherer Zeit so manches - wäre es nicht so, könnte man sich entspannt zurücklehnen. Solches aber lassen zudem die täglich vermeldeten Neuigkeiten aus aller Welt nicht ratsam erscheinen. Auch deshalb konnte der entspannt, zuweilen überheblich scheinende Bundeskanzler Scholz mit seinem Auftreten nicht auf Dauer beruhigend wirken. Einfach auf die Pauke hauen kann er indes auch nicht.

Auffällige Selbstverständlichkeit bei Geldforderungen

Solches versuchen dann aber Gruppen, die ihre partikularen Interessen in der politischen Abstimmung früher offenbar besser repräsentiert sahen. Was sie bewegt, tragen sie auch recht massiv vor. Nachdem Ärzte und Apotheker nicht nur vereinzelt ihre Praxen und Geschäfte geschlossen hielten, kam es noch dicker in den pointiert „Woche der Wut“ genannten Tagen, als Bauern für Aufsehen und Verkehrsbehinderungen sorgten und die Lokführer, wie jetzt erneut, mit ähnlichen Folgen streikten. Sind das Verteilungskämpfe, weil man nach Corona sah, dass manche Weiche neu zu stellen wäre, aber nun leider das Geld knapp zu werden droht? Die Selbstverständlichkeit, mit der Milliarden Euro gefordert werden für so vieles, das eine bessere Finanzierung verdient hätte oder sie einfach nur möchte, ist jedenfalls auffällig - und wirkt schon ein wenig leichtfertig.

Gibt es eigentlich noch die breite schweigende Mehrheit, die mit vielleicht wachsendem Staunen auf das schaut, was sich um sie ereignet - oder droht sich diese gemäßigte Mehrheit aufzulösen? Vom Gemeinwesen profitieren alle, deshalb sind ihm auch alle verpflichtet. Dazu beitragen lässt sich auf vielerlei Weise, doch mit bloßem Fordern, mit Anschuldigungen, Besserwisserei, mit purem Behaupten und Eigensinn ist ihm nicht gedient. Wer sich dadurch gestärkt und bestätigt fühlen darf, ist allein der politische Rand.

Ruhe zu bewahren ist generell keine schlechte Sache

Der gesamtgesellschaftliche Nutzen der Politik beruht auf einem Ausgleich der Interessen. Daran gilt es im Sinne des Gemeinwesens mitzuwirken. Vernünftige Auseinandersetzung, Sachlichkeit, Augenmaß tragen dazu bei, und in Diskussionen wird besser nicht bloß gestritten, sondern dem „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ gefolgt, von dem der Philosoph Jürgen Habermas spricht.

Ohnedies ist Ruhe zu bewahren keine schlechte Sache. Es schont nicht zuletzt den Blutdruck und das Herz. Und wer sich nicht ereifert, sondern Maß hält, hat vielleicht auch noch Sinn und Energie für eine anspruchsvolle Lektüre. Wie wäre es etwa mit einer Erzählung oder einem Drama von Heinrich von Kleist? Gute Literatur schärft den Sinn für die Wirklichkeit. Affektgeladene Perspektiven trüben ihn ein. Sich aus der Wirklichkeit solcherart zu verabschieden, ist aber gewiss nichts, was der Allgemeinheit und Gemeinschaft dienlich wäre. Es trägt allenfalls dazu bei, dass eine schiefe Sicht auf die Verhältnisse diese ins Rutschen bringt - und zwar so weit und so lange, bis die falsche Perspektive doch noch zutreffend wirkt.

Redaktion Kulturredakteur, zuständig für Literatur, Kunst und Film.

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