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Journal: Warum das klassische Konzert sich verändern muss

Die klassische Musikszene bleibt gefährlich stagniert. Ein Blick in die Konzertsäle zeigt ein Publikum, das immer älter wird, während junge Generationen sich der Klassik abwenden. Gibt es eine Lösung?

Von 
Susanne Kaulich
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Funktioniert klassische Musik im Wettbewerb um Aufmerksamkeit nur noch als Teil der Event-Kultur – wie bei Geiger David Garrett oder Alexandra Arrieche (Bild), Dirigentin der Classic-meets-Pop-Reihe Night Of The Proms. © Marc Metzler/mTwo Media

Berlin, Dresden, Frankfurt, Hamburg, Leipzig, München. Willkürlich herausgegriffene Termine meines Kulturkalenders. Überall der gleiche Eindruck: Viel Silberhaar. Gut situiertes Publikum, meist jenseits der sechzig.

Ich mache mir Sorgen. Wer füllt in einigen Jahren die Plätze in den 140 subventionierten Theatern, wer wird den rund 130 öffentlich finanzierten Klassikorchestern noch zuhören? Falls es sie dann noch gibt ...

Die Baby-Boomer-Blase bildet den Hauptteil des Klassikpublikums. Ist es übertrieben pessimistisch, wenn ich mich über jeden einzelnen jüngeren Besucher freue?

Auch der renommierte Kulturjournalist Axel Brüggemann sieht die aufziehende Gefahr. Mit seinem informativen Essay „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft. Wie wir unsere Musikkultur retten“ liefert er anhand von Zahlen, aktuellen Beispielen und Beobachtungen eine Bestandsaufnahme der Welt des Theaters und der klassischen Musik. Die er für das Überleben zu klein hält, zumal sie sich auch noch spalte: In Konservierer, die immer so weiter machen wollen, und jene, die als einzige Überlebensperspektive einen radikalen Wandel fordern. Brüggemann nennt sie reißerisch „die Sterbende“ und die „Letzte Generation“. Auf 248 Seiten exerziert er durch, wie er den zerstörerischen Kulturkampf zwischen Stagnation und Erneuerung in eine produktive Streitkultur überführen will. Mitunter redundant, aber inspirierend.

Klassik kein Thema in der Bildung

Ich frage mich, welche Aufgabe hat Klassische Kultur in unserer Zeit? Gilt sie noch als gesellschaftspolitisch relevant so wie einst unter Künstlern wie Patrice Chéreau, Pierre Boulez, Leonard Bernstein, Harry Kupfer? Oder erleben wir eher, wie Klassik immer mehr zur oberflächlichen, glatten, überall kompatiblen Unterhaltung verkommt? Wenn etwa ein David Garrett zur WM-Auslosung mit Stirnband sportlich fidelt? Oder Werbung ein Chopin-Thema missbraucht?

Wie multiplizieren wir Klassik wieder in die breite Gesellschaft hinein, die davon keine Ahnung mehr hat? Was trägt Bildung hierzu bei? Wie den imaginären Elfenbeinturm (zum Beispiel Applausregeln!) verlassen, Hemmschwellen abbauen, Niveau aber erhalten?

Überlebensnotwendige Fragen. Aus der Forschung weiß man, dass sich der Musikgeschmack hauptsächlich in der Jugend formt. Auch dass im digitalen Zeitalter die klassische Musik ins Hintertreffen geraten ist. Der Kohorteneffekt wirke sich, so eine Studie, bereits in der Altersgruppe der 30- bis 49-Jährigen aus. Genau in dieser Lebensphase sind Besucher am schwersten für Konzert und Oper zu gewinnen. Folge hiervon ist, dass auch Kinder mit klassischer Musik kaum noch in Berührung kommen. Bildungsnahe Schichten hin oder her – die Prioritäten bei der Erziehung liegen heutzutage oft anderswo.

Was durch die Politik häufig sogar noch unterstrichen wird. Wird doch am Musikunterricht zuerst gespart. Unter den Coronamaßnahmen litten Kultureinrichtungen besonders heftig. Obendrein musste man im Sommer irritiert registrieren, dass der Deutsche Kulturrat darum kämpfen muss, als „besonders wichtige Einrichtung“ seinen Platz als Teil der kritischen Infrastruktur zu erhalten.

Was heißt das für den Stellenwert der klassischen Kultur? Begreiflich, dass Menschen sich von der Klassik abwenden, wenn deren Relevanz nicht einmal mehr durch Politik unterstrichen wird. Es sei wichtig, so auch Brüggemann, dass die Bedeutung der Kultur auch jenen bewusst sei, die selbst keine Theater und Konzerte besuchten. Zumal sie sie ja auch mitfinanzieren.

Damit verbunden ist der dringende Appell, neue, heterogenere Publikumsschichten zu erschließen. Besonders das klassische Konzert müsse sich verändern, fordert nicht nur Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt. Es gebe heute so viele Möglichkeiten, „seine Zeit auszugeben“. Ist da klassische Musik im Kampf um Teilhabe präsent genug? Arbeitet man wenigstens am Abbau von Hemmschwellen? Doch, Konzerteinführungen scheinen mir immer besser besucht. Zuhörer bekommen gerne erklärt, worauf sie achten können. Werkstattgespräche wie das Currentzis-LAB in Stuttgart bei freiem Eintritt und gestreamt ist der Renner.

Eine neulich vom kolumbianischen Jugendorchester choreografierte „Petruschka“ von Igor Strawinsky brachte das überraschte Publikum in der Isarphilharmonie zum Kochen. Im Rundfunk zeigen junge Virtuosen wie Sophie Pacini oder Alexander Krichel, worauf es ankommt. Klassische Musik muss nicht erhaben und schon gar nicht langweilig sein. Mehr solcher Formate!

Auch erfolgreiche Projekte wie Simon Rattles Berliner „Rhythm is it!“ oder Barenboims Musikkindergarten dürfen nicht von einzelnen Persönlichkeiten abhängen. Musikalische Erziehung muss breiter institutionalisiert werden – auch in der Provinz und nicht nur für Jugendliche. Denn dies kommt der Gesellschaft insgesamt zugute. Musik spricht alle Sprachen, verbindet, stärkt soziale Kompetenz. Liefert wie der Sport die Grundlagen für eine solidarische und offene Gesellschaft. Hier zu investieren wäre nachhaltig und klug.

Modell für die Zukunft?

Positiv zum Schluss stimmen Zahlen aus dem Freizeitmonitor 2023. Demnach verzeichnet die Klassik im Vergleich zu 2013 sogar eine höhere Steigerung als das Kino. Warum nicht gleich mal ein Kombi-Ticket, das Kino- und Theater, Pop und Klassik kombiniert? Oder ein 9- Euro-Ticket für Kultur, wie es in Hagen erfolgreich ausprobiert wird. Menschen sind neugierig. Womöglich braucht es auch Initialzündungen, um gravierendem Publikumsschwund entgegenzuarbeiten.

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