Er sei „ungeschickt, schlaff, unwillig und vorlaut“, wird dem kleinen Friedrich Engelhorn gleich in der ersten Klasse bescheinigt. „Schwatzhaft, zerstreut“ lautet dann das Urteil in der zweiten Klasse. Denkbar schlechte Voraussetzungen, ein erfolgreicher Mann zu werden - oder? Und doch wird aus ihm ein vielfältiger, mutiger, innovativer und höchst erfolgreicher Unternehmer, dessen langjähriger Wohnsitz im Mannheimer Innenstadtquadrat A 1 heute aber nicht mehr existiert. Dafür wird in C 4,6 und besonders in einer Villa in der Werderstraße 44 an ihn erinnert.
Das stattliche Bürgerhaus „Zur Stadt Augsburg“ an den Planken in P 5, 1, wo Friedrich Engelhorn am 17. Juli 1821 als viertes Kind des Bierbrauermeisters Johann Engelhorn und seiner Frau Christine zur Welt kommt, gibt es auch nicht mehr. Mannheim ist seinerzeit eine landwirtschaftlich geprägte Kleinstadt.
Schule abgebrochen
Ab 1830 besucht Friedrich Engelhorn das Großherzogliche Lyzeum in A 4, die renommierte höhere Lehranstalt. Er gilt aber als schlecht, muss schon die zweite Klasse wiederholen, bessert sich nicht und verlässt die Schule nach knapp vier Jahren vorzeitig. Dann macht er eine Lehre als Gold- und Silberschmied bei Matthias Gehring in D 3,10. Warum er ausgerechnet diesen Beruf wählt (oder ihn die Eltern dorthin schicken), ist nicht überliefert. Danach geht er, wie sich das für junge Handwerksburschen gehört, auf die Wanderschaft durch mehrere europäische Städte und kommt erst 1846 nach Mannheim zurück.
Engelhorn eröffnet eine eigene Werkstatt und tritt der Innung der Gold- und Silberarbeiter bei. Aber dass er Größeres vorhat, merkt man daran, dass er sich nicht als Handwerker, sondern gerne als Bijouterie-Fabrikant - sprich Schmuckstück-Hersteller - bezeichnet, insbesondere bei der Hochzeit 1847. Da heiratet er die wohlhabende Brauerstochter Marie Brüstling.
Nur kurz leben Friedrich und Marie Engelhorn bei seinen Eltern. Noch 1847 ziehen sie in ihr eigenes Haus nach C 4,6, 1725 von einem ehemaligen Stadt- und Ratsdiener errichtet und zeitweise Wohnsitz vom Leibchirurg der Kurfürstin Elisabeth Auguste, Franz Anton von Heiligenstein. Inzwischen gehört es der Stadt und beherbergt die „Textilerei“, ein Gründerzentrum für Mode, Design und Lifestyle. Bei den aufwendigen Sanierungsarbeiten wird 2015 eine eingemauerte, aber kunstvoll geschwungene Treppe mit schmiedeeisernem Geländer im klassizistischen Louis-Seize-Stil entdeckt - die einzige original erhaltene Kunstschmiedearbeit des späten 18. Jahrhunderts in Mannheim.
Blutvergießen verhindert
Der Verein Friedrich Engelhorn-Archiv hat geholfen, dieses wunderschöne Geländer zu restaurieren - aus gutem Grund. Das Barockhaus habe für Engelhorn eine große Bedeutung, es sei „Genius Loci“ und inspirierend nicht nur für seine künstlerische Tätigkeit als Goldschmied, so Hans-Otto Brinkkötter und Stefanie Dunz vom Friedrich Engelhorn Archiv: „Er verbrachte hier nach mehrjähriger Lehr- und Wanderzeit durch Europa vier entscheidende Jahre seines privaten wie beruflichen Lebens!“
Es sind auch für die Stadt Mannheim ganz entscheidende Jahre. 1848/49 spitzt sich die deutsche Revolution zu, soll der Wunsch nach einem geeinten deutschen Staat mit einer freiheitlichen Verfassung mit Gewalt erkämpft werden. Engelhorn ist Wahlmann für die Nationalversammlung in der Paulskirche und gilt als Liberaler, steht aber im gewaltsamen Kampf nicht auf der Seite der Freiheit, sondern bewahrt seine Heimatstadt mit List und Courage vor Blutvergießen und Zerstörung.
Die Engelhorn-Villen heute
Erste Engelhorn-Villa: C 4,6, heute „Textilerei“, Existenzgründerzentrum Mode und Design. Shop für Unikate, Prototypen und Kleinserien von Modeschmuck, Accessoires und Bekleidung geöffnet Donnerstag und Freitag, 10 bis 15 Uhr. Im Innenhof sieht man dann die sanierte Treppe.
Engelhorn-Palais A 1,2: Sein 1873 bis 1875 gebautes und 1881 erweitertes, vierstöckiges Stadtpalais wird 1913 bis 1954 von der Sparkasse genutzt und 1961, um Platz für den modernen Neubau des Landgerichts von Helmut Striffler zu schaffen, abgerissen.
Villa von Friedrich Engelhorn: Werderstraße 44, 68165 Mannheim, Sitz vom Friedrich-Engelhorn-Archiv.
Friedrich-Engelhorn-Archiv: Der 2000 gegründete gemeinnützige Verein will die Geschichte der Familie und deren Nachfahren unter besonderer Berücksichtigung der Industriegeschichte dokumentieren, archivieren und publizieren sowie die unter Denkmalschutz stehenden Grabstätten der Familien auf dem Mannheimer Hauptfriedhof erhalten. Das Archiv steht der Öffentlichkeit nach Entscheidung des Vorstands für Forschungsarbeiten zur Verfügung. Feste Öffnungszeiten gibt es derzeit wegen Corona nicht. pwr
Als am 21. Juni 1849 das Badische Revolutionsheer bei Waghäusel die entscheidende Niederlage erleidet, ist die Sache nicht mehr zu retten. Engelhorn, zuvor Oberleutnant, wird nach dem Rücktritt des Kommandanten der 2000 Mann zählenden Mannheimer Bürgerwehr dessen Nachfolger und erkennt, dass die Lage aussichtslos ist. Er sorgt dafür, dass die Stadt am 22. Juni geordnet an die schon bei Käfertal und Feudenheim stehenden preußischen Truppen übergeben wird, die Aufständischen entwaffnet werden und er verhindert in letzter Minute den Diebstahl der mit 80 000 Gulden gut gefüllten Gemeindekasse.
Schon im Revolutionsjahr 1848 erweist sich der „Goldarbeiter“, wie er sich auch nennt, als Unternehmer mit Tatkraft. Mit seinem Untermieter in C 4,6 gründet er eine Gasfabrik in K 5. „Es ist im Vergleiche mit Oel oder Kerzen unstreitig das billigste Beleuchtungsmaterial“, wirbt er. 1851 bekommt seine Firma von der Stadt den Auftrag, in K 6 ein Gaswerk zu bauen und die Stadt mit 631 Laternen in neues Licht zu tauchen. Als sie eingeschaltet werden, gibt es am Kaufhaus in N 1 Jubelgesang und es leuchten der biblische Spruch „Und es ward Licht“ sowie eine künstliche Sonne auf. Dieses Geschäft verspricht mehr Zukunft als das des Juweliers, das durch die Revolutionsjahre zum, so später Marie Engelhorn in ihren Erinnerungen, „Stillstand“ gekommen ist.
Zeitweise wohnt Familie Engelhorn auch an der Gasfabrik, in einer Dienstwohnung in K 6,2. Allerdings kommt es mit der Stadt zu Auseinandersetzungen um den Gaspreis sowie Schäden am Straßenpflaster durch die Verlegung von Leitungen.
Farbenfabrik im Jungbusch
Engelhorn hat da aber längst ein neues Unternehmen im Sinn. Er bekommt mit, dass das bei der Herstellung von Leuchtgas anfallende Abfallprodukt, der Steinkohlenteer, sich zur Herstellung von Farben eignet. Am 13. November 1860 erteilt ihm der Großherzog die Konzession für eine Farbenfabrik - es ist die erste Teerfarbenfabrik in Deutschland, noch vor den späteren großen Konkurrenten Bayer und Hoechst. Errichtet wird sie in der kurz zuvor als unrentabel geschlossenen Zinkhütte im Jungbusch (heute Schanzenstraße). 30 Arbeiter zählt die junge Firma anfangs, deren Produktion an Farbstoffen ständig wächst.
Engelhorn fehlen aber wichtige Vorprodukte. Er bezieht sie vom Verein Chemischer Fabriken im Wohlgelegen und versucht mit ihm eine Fusion - aber die scheitert 1865. Aus dem Rückschlag schöpft Engelhorn indes neue Kraft: Er beschließt, eine eigene Fabrikation aufzubauen. Am 6. April 1865 wird in D 3,12, im Büro des Rechtsanwalts Leopold Ladenburg, von insgesamt neun Teilhabern die Gründungsurkunde für die Aktiengesellschaft „Badische Anilin- & Sodafabrik“ (BASF) unterzeichnet.
Bis 1919 bleibt Mannheim juristischer Sitz - aber tatsächlich verliert die Stadt das Unternehmen bereits kurz nach der Gründung. Weil der Platz im Jungbusch zu klein ist, will die neue Firma im Gewann „Neuwiesen“ - heute der Bereich ab Collini-Center bis weit in den Unteren Luisenpark - eine große Fläche von der Stadt zur Ansiedlung einer Chemiefabrik kaufen. Die Konkurrenten des Vereins Chemischer Fabriken bieten aber mehr Geld. Freilich ist es nur ein Scheinangebot.
Die Stadt entschließt sich zur Versteigerung der Grundstücke, um den Preis weiter zu treiben - aber die platzt. Engelhorn nimmt noch am Tag der Entscheidung des Gemeinderats die Schiffsbrücke nach Ludwigshafen, kauft Bauern im Hemshof und Friesenheim Äcker am Rheinufer ab. Die Stadtväter von Ludwigshafen und die Regierung von Bayern, zu der die Pfalz gehört, stimmen freudig zu. Mannheim hat das Nachsehen. Sofort ist Baubeginn, 1866 läuft die Produktion.
Engelhorn stellt bereits 1866 einen Fabrikarzt ein, lässt seine Arbeiter kostenlos im Krankenhaus behandeln und gründet im Hemshof 1871 die erste Arbeitersiedlung mit 400 Wohnungen - sie wird zum Muster weiterer Arbeitersiedlungen. Nur er hat auch die Befugnis, allein für die BASF zu zeichnen; alle anderen Direktoren brauchen eine zweite Paraphe auf Verträgen.
Aber dennoch ist Engelhorn nicht allein für die BASF tätig. Er zählt zu den Mitgründern der Rheinischen Creditbank und der Mannheimer Versicherung, beteiligt sich an der Gründung der Ludwigsbahn in der Pfalz, mischt bei der Badischen Gesellschaft für Zuckerproduktion (heute Südzucker) oder bei der Entstehung der „Mannheimer Mehl-& Brodfabrik“, einer Gummiwaren- sowie einer Zementfabrik mit. Dabei ist diese Liste gar nicht vollständig. . .
In der BASF indes kommt es zum Zerwürfnis der Gesellschafter - wobei sich, da Engelhorn keine Aufzeichnungen hinterlassen hat und es offenbar dazu keine Akten gibt, kein Biograf zu den Gründen auslässt. Jedenfalls scheidet Engelhorn 1883 aus dem Vorstand und 1885 auch aus dem Aufsichtsrat aus. Er soll sich symbolisch mit der Aktie Nummer eins zufriedengegeben haben.
Zu der Zeit wohnt, besser: residiert, Engelhorn gegenüber des Mannheimer Schlosses. 1873 bis 1875 hat er sich in A 1 ein repräsentatives Palais errichten und 1881 erweitern lassen, mit Rückgebäuden für die Dienerschaft. Mosaiken, Marmor und Malereien werden gekrönt durch den „Maurischen Saal“ mit exotischer Pracht im Innern und den Köpfen von berühmten deutschen Regenten, von Bismarck bis zum Kaiser, an der Fassade.
Wohngebiete entwickelt
In Sichtweite seines Domizils betätigt er sich auch als, wie man heute sagen würde, Projektentwickler. 1882, noch als BASF-Vorstand, übernimmt Engelhorn die Führung eines Konsortiums, das die großherzoglichen Baumschulgärten östlich des Schlosses mit Kies auffüllen und als Baugebiet für Villen herrichten lässt. Die dort entlangführende Straße wird, auf Engelhorns Initiative hin, zum 70. Geburtstag des von ihm verehrten Reichskanzlers Bismarckstraße genannt. Weil dieses neue Viertel so erfolgreich ist, macht er sich 1890 an die Erschließung des Gontardschen Guts, das er der Evangelischen Kirche abkauft. Das Areal wird zur Keimzelle des heutigen Mannheimer Stadtteils Lindenhof.
Engelhorns Sohn Friedrich, oft „Fritz“ genannt, arbeitet bereits ab 1883 bei der Firma C. F. Boehringer & Söhne. Ihr hatte Engelhorn Senior seine Fabrik im Jungbusch verkauft, aber die erweist sich bald als zu klein, weshalb das pharmazeutische, anfangs auf den Fiebersenker Chinin spezialisierte Unternehmen auf den zu Käfertal gehörenden Waldhof umzieht. Nach dem Tod des Inhabers Christoph Boehringer 1882 fällt die Firma an den Sohn Ernst; Engelhorn junior wird Teilhaber; auch der Vater investiert stark. Als Ernst Boehringer 1892 im Alter von nur 32 Jahren stirbt, zahlt Engelhorn junior die Erben aus und übernimmt für eine Million Mark die Firma Boehringer - und macht sie zu einem großen, in Forschung und Vertrieb starken Pharmaunternehmen.
Balkon mit Engel
Seine Eltern sterben beide, im Abstand von nur wenigen Wochen, 1902. Sohn Friedrich, der bisher mit ihnen in dem Palais in A 1 wohnt, hält dann dort nichts mehr. Er lässt von dem bekannten Mannheimer Architekten Rudolf Tillessen in der Werderstraße eine prunkvolle, üppig verzierte Villa aus gelbem Sandstein errichten, deren Balkon zur Straßenseite eine Engelsfigur trägt. Der Enkel des Erbauers und langjährige Boehringer-Geschäftsführer Curt Glover Engelhorn (1926-2016) lebt hier lange mit seiner Familie, später weitere Familienmitglieder.
Mit dem Verkauf des Unternehmens Boehringer Mannheim an die Firma Roche 1997 übernimmt ein Familienmitgliedern gehörender, in Amerika sitzender Trust die markante, die Oststadt prägende Immobilie unweit der Christuskirche. Seither mehrfach aufwendig renoviert, ist sie heute vermietet - bis auf das Stockwerk, das als zentrale Erinnerungsstätte an die Verdienste der Familie dient und dem Vater (1821-1902) wie dem Sohn Friedrich Engelhorn (1855-1911) gewidmet ist. Unter den Gemälden, Dokumenten und Möbeln, die hier zu sehen sind, stechen das Skizzenbuch des jungen Goldschmieds Friedrich Engelhorn ebenso hervor wie die Urkunde, mit der ihn 1883 der bayerische König zum Kommerzienrat ernennt - obwohl er als Badener ja Ausländer ist. Im Garten erinnert ein 2,7 Tonnen schwerer, historischer Chinin-Mahlstein an die Boehringer-Anfänge.
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