Mannheim. Er liegt wirklich nicht im Fokus der pulsierenden Großstadt Mannheim, eher buchstäblich an ihrem Rande, weit im Süden: der kleine Ortsteil Pfingstberg, begrenzt von der B 36, den Gleisen des Rangierbahnhofes und dem Dossenwald. Dennoch birgt seine Geschichte, die vor 100 Jahren beginnt, wahrlich Interessantes.
Das fängt schon mit dem Namen an. Wobei mit der zwar reizvollen, aber historisch nicht belegbaren Legende aufzuräumen ist, wonach er auf Gottesdienste zurückgeht, die im 17. Jahrhundert von den in Friedrichsfeld lebenden Hugenotten an Pfingsten heimlich im Dossenwald abgehalten worden seien. Die mag es gegeben haben. Doch der Ursprung des Namens ist banaler: der Frühjahrsauftrieb des Viehs auf das hiesige Hochgestade an Pfingsten.
Derart liegt das Gelände im Dornröschenschlaf - bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der vom Mannheimer Stadtbaurat Albrecht Römer entwickelte Generalbebauungsplan strebt Wohnsiedlungen an, die sich in unmittelbarer Nähe sowohl zu großen Industrieanlagen als auch zu Grünflächen befinden. So verfällt er auf den Pfingstberg, der ja zwischen dem 1906 erbauten Rangierbahnhof und dem Rheinauer Wald liegt.
Bilfinger baut „Kistenhäuser“
Erster Bauherr wird die Baufirma Grün + Bilfinger, Urahn des heutigen Weltkonzerns, die hier ein Kiesloch unterhält. 1921 ersteigert ihr Direktor Paul Bilfinger 300 000 Munitionskisten aus dem Ersten Weltkrieg und lässt seinen Architekten Max Schubert daraus Häuser errichten - eine Frühform der Rüstungskonversion.
Dabei werden die Kisten wie Backsteine aneinander gereiht, mit Schlacke gefüllt und die Deckel je zur Hälfte über zwei Kisten genagelt. Die Abdichtung der Fugen erfolgt durch Papierfilzen. Die Wände werden innen verputzt, die Außenfassaden zum Schutz gegen Wind und Wetter geschindelt und gelb gestrichen.
Im Oktober 1921 sind diese beiden „Kistenhäuser“ in der Wachenburgstraße/Höhe Frühlingstraße fertig. Sie stehen bis 1960, als die GBG hier ihre Wohnanlage „Martinistraße“ errichtet. Einen Teil der 300 000 Kisten von 1921 verkauft Bilfinger übrigens in den 1960er Jahren in die belgische Kolonie Kongo.
Im Februar 1921 erwirbt die „Baugesellschaft für Kleinwohnungen“, eine Genossenschaft von Bahnbediensteten, das Gelände auf der anderen Seite der Wachenburgstraße. Am Sonntag, 3. Juli 1921, erfolgt der feierliche Spatenstich zum ersten Haus, bis Ende 1922 sind 50 Gebäude bezugsfertig.
Der weitere Ausbau wird durch ein historisches Ereignis gebremst: die Inflation von 1923. Zwar geht es danach weiter, doch die Folgen sind bis heute im Ortsbild ablesbar: Um die teuren Grundstücke besser auszunutzen, werden die Häuser nunmehr drei- statt zweistöckig gebaut.
Als letzte Gebäudezeile entsteht 1929 der Pfingstbergplatz. Doch nun sorgt die Weltwirtschaftskrise für eine Unterbrechung. So folgen nur noch wenige Häuser. 1932, zehn Jahre nach Baubeginn, ist die eigentliche Pfingstbergsiedlung fertig.
Wasser an der Straßenecke
Die Infrastruktur bleibt lange rudimentär. Die Wasserversorgung erfolgt anfangs nur durch einen Wasserhahn an jeder Straßenecke, die Entsorgung über Sickergruben. Die Straßen sind mit Sand bedeckt. Um ihre Interessen bei der Stadt durchzusetzen, gründen die Bewohner 1927 den „Gemeinnützigen Verein Pfingstberg“. Danach wird die Siedlung an die Kanalisation und die Elektrizität angeschlossen.
Politisch ist der Pfingstberg in den 1920er Jahren eine Hochburg der Kommunisten. Noch 1930 entfallen bei der Reichstagswahl die Hälfte der 995 Stimmen auf die KPD, auf Platz zwei kommt die SPD mit 363, die NSDAP gerade mal auf 96 Stimmen.
Insofern ist der Pfingstberg auch Ort des Widerstands in Mannheim. Seine Protagonisten sind der Schlosser Eduard Schwab und sein Schwager Heinrich Wehmeyer; dieser wirkt als Matrose auf einem holländischen Rheindampfer zwischen Basel und Rotterdam als Kurier zu Emigranten in Holland und Frankreich. Doch beide fliegen auf, werden verhaftet, zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, Wehmeyer zusätzlich in eine Bewährungskompanie an die Ostfront und schließlich ins KZ Dachau verbannt. Beide überleben die NS-Zeit.
Im Bombenkrieg ist der Pfingstberg kein explizites Ziel, doch er liegt ungünstig: direkt neben dem Rangierbahnhof. Immer, wenn dieser angegriffen wird, zum Beispiel an Pfingstsamstag 1944 mit 100 „Fliegenden Festungen“, dann bleibt auch der angrenzende Pfingstberg nicht verschont. Beim Einmarsch der Amerikaner 1945 landet ein US-Tank einen Volltreffer in die 1934 gepflanzte „Hitler-Linde“ auf dem Pfingstberger Marktplatz - welch ein Symbol für die Befreiung! Dabei hätte es schlimmer kommen können.
Tipps für Pfingstberg-Interessierte
Lage: Im Süden Mannheims zwischen Kern-Rheinau und Hochstätt/Seckenheim, Anfahrt über Bundesstraße 36 bzw. Wachenburgstraße.
Sehenswürdigkeiten: Was lohnt sich in einem kleinen Ortsteil schon anzusehen? – mag sich mancher fragen. Weit gefehlt! Auf dem Pfingstberg gibt es einiges zu entdecken.
Kirchenbauten: Katholische Kirche St. Theresia, erbaut 1961, vom Reiseführer Baedeker als „eine der schönsten Kirchen Deutschlands“ bezeichnet; Evangelische Pfingstbergkirche von 1963, konzipiert von dem renommierten Architekten Carlfried Mutschler, dank ihrer wandhohen Verglasung mit einzigartigem Akzent; außerdem: Ökumenischer Kreuzweg im Wald am Hallenweg.
Marktplatz: Zwei Bauwerke, die an den Ursprung des Ortsteils als Eisenbahnersiedlung erinnern: Flügelrad-Brunnen und Signal-Denkmal.
Gedenkstätten: In der Herbststraße (neben St. Theresia) Gedenktafel zur Rettung des Pfingstbergs durch Otto Lehmann 1945; am Hallenweg Gedenk-Hain für die 1945 von der SS ermordeten Zwangsarbeiter des Rangierbahnhofs, gestaltet vom Heimatmuseumsverein Seckenheim.
Einkehren: Gaststätte des Sport-Clubs Pfingstberg, Mallaustraße 111, https://sc-pfingstberg.jimdo.com.
Ausspannen: Spazieren im Wald oder am Pfingstbergweiher; Baden gehen im nahen Parkschwimmbad.
Literatur: Buch „Zwischen Grün und Gleis. 75 Jahre Mannheimer Ortsteil Pfingstberg“ von Konstantin Groß, 528 Seiten, erschienen 1997, im Buchhandel vergriffen, nur antiquarisch oder im Web erhältlich. -tin
Am Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner nämlich hebt die Wehrmacht in der Wachenburgstraße einen Schützengraben aus. In der Nacht begibt sich der in der katholischen Kirchengemeinde engagierte Otto Lehmann in den Unterstand, um den Kommandanten dazu zu bewegen, auf den sinnlosen bewaffneten Widerstand zu verzichten. Würde Lehmann an einen fanatischen Nazi geraten, würde er - wie so viele andere in letzter Minute sinnlos - umgehend erschossen. Doch dieser Offizier tut das nicht, lässt seine Entscheidung zunächst jedoch offen. Am Morgen ergibt sich seine Einheit.
Die Besatzungszeit bleibt nicht ohne Konflikte. Die reizvollen Siedlungshäuser erinnern die US-Offiziere an ihr eigenes Zuhause. So werden sie von ihnen beschlagnahmt. Innerhalb kürzester Zeit müssen die Pfingstberger ihr Heim unter Zurücklassen von Hab und Gut räumen. Glück hat, wer im Hühnerstall seines Gartens unterkommen kann.
Bombentrichter und Kino
Für die Kinder ist dies eine Zeit der Not, aber auch großer Freiheit. Die Bombentrichter bilden einen gigantischen Abenteuerspielplatz, ihr Inhalt aber auch tödliche Gefahren. Bekannt ist der Fall zweier Jungen, die eine Granate finden und sie in die Luft werfen, als diese plötzlich explodiert. Ein Junge stirbt, der andere behält lebenslang ein steifes Bein.
In den 1950er Jahren verfügt der kleine Pfingstberg sogar über ein eigenes Kino. Die „Rio-Lichtspiele“ in der Herbststraße zeigen Heimatschnulzen wie „Schwarzwaldmädel“ oder „Grün ist die Heide“, für Kinder „Tarzan“- und „Zorro“-Filme.
Ende der 1950er/Anfang der 60er Jahre überspringt die Bebauung die Grenzen der alten Siedlung, Bungalows entstehen, die Zahl der Einwohner erlebt mit 3400 ihren Höhepunkt; auch Oberbürgermeister Ludwig Ratzel wohnt hier. Mit dieser Form der Erweiterung hat der Pfingstberg Glück: In der Siedlung Hochstätt auf der anderen Seite des Rangierbahnhofes, die anfangs die gleiche kleinteilige Bebauung aufweist wie der Pfingstberg, wird diese Struktur durch große Geschossbauten der GBG nachhaltig gestört.
Neue Schule und zwei Kirchen
Auf dem Pfingstberg wächst mit der Bevölkerung die Infrastruktur: 1958 entsteht die Pfingstbergschule, 1961 die katholische Kirche St. Theresia, 1963 die evangelische Pfingstbergkirche - Bauwerke, die in ihrem Genre über die Grenzen des Pfingstbergs hinaus bekannt werden. Am 12. Juli 1986 besucht sogar die Friedensnobelpreisträgerin Mutter Teresa die kleine katholische Gemeinde hier.
Um den Ortskern attraktiver zu gestalten, gründet sich 1981 die „Marktplatz-Initiative“, die 1993 sogar einen Brunnen errichtet. Gleichwohl beginnt damals eine Krise der Infrastruktur. Ein Laden nach dem anderen schließt, 1990 das letzte Lebensmittelgeschäft, 1996 das Postamt, auch das Lokal „Waldblick“, zu dem an Feiertagen Gäste aus der ganzen Region anreisen. Sparkasse und Volksbank machen dicht.
Auch traditionsreiche Vereine lösen sich auf: 1985 der Männergesangverein 1936 Pfingstberg, 2017 der Gesangverein Frohsinn und der Gemeinnützige Verein. Gleichwohl bleibt der Pfingstberg als Wohnort heiß begehrt - dank kleinteiliger Bebauung und der Nähe zur Natur.
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