Heidelberg. Argentinien in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Die Militärdiktatur von Jorge Rafael Videla beherrscht das Land. Etwa 500 Säuglinge verschwinden spurlos und werden an regimetreue Paare zur Adoption freigegeben. Einige mutige Mütter, die „Madres de Plaza de Mayo“ demonstrieren vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires, dem „Plaza de Mayo“. Fast ein halbes Jahrhundert später widmet das Theater Heidelberg diesen Frauen nun einen Platz in der Neuinterpretation des Musiktheaters „María de Buenos Aires“.
Am Freitagabend hat die Tango-Oper ihre Premiere gefeiert, musikalisch begleitet vom Philharmonischen Orchester Heidelberg mit temperamentvollen Kompositionen wie „Yo Soy María“. Inszeniert ist das Werk von Regisseur Guillermo Amaya, für die Dramaturgie sorgt Ulrike Schumann.
„María de Buenos Aires“ in Heidelberg: Vom verruchten Tanz zur edlen Konzertmusik
Gemeinsam mit ihrem Team um Michael Schmieder (Choreografie) und Margrit Flagner (Bühne) haben die kreativen Köpfe der Heidelberger Interpretation ein Alleinstellungsmerkmal verliehen. Denn in der Oper von Astor Piazzolla und Horacio Ferrer aus dem Jahr 1968 konnten die besagten Mütter aus den Siebzigern noch nicht vorkommen. Gemeinsam haben beide Werke jedoch den Tango, die musikalische und tänzerische Interpretation von Freiheit und Liebe.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt der Tango als verrucht und wurde in Bordellen in Buenos Aires gespielt. Piazzolla verpasste ihm in den Fünfzigerjahren einen edlen Schliff und brachte dieses neue Genre als „Tango nuevo“ in die Konzertsäle. Aus der Tanzmusik war eine Musik zum Hören geworden. Das gilt auch für die mehr als zwei Stunden lange Opernpremiere in Heidelberg. Dort ist der Tango von Melancholie umhüllt, er klingt geschmeidig, bisweilen ruhig und geheimnisvoll, aber nicht verrucht.
„So viel Zärtlichkeit in mir, dass ich Gott gebären kann“
Das zeigt sich in der Figur der María, dargestellt von Zlata Khershberg-Reith. In den verruchten Straßen von Buenos Aires will die Frau aus der Vorstadt, die Personifikation des Tangos, ihr Glück finden. Kurze Zeit später ist sie tot – und doch tritt sie im zweiten Teil wieder in Erscheinung: als Schatten ihrer selbst, auf dem Weg zu einem neuen Tango. Begleitet wird diese komplexe Handlung von einem Erzähler (gespielt von Danny Exnar), der in Form eines Geistes auftritt und dem Publikum Orientierung bietet. Bisweilen sind die Sätze von María, die zugleich die Rolle einer Mutter verkörpert, aber so stark, dass sie kaum einer Einordnung bedürfen. „So viel Zärtlichkeit in mir, dass ich Gott gebären kann“, sind Worte, die nachhallen.
Gesungen wird auf Spanisch, es gibt deutschsprachige Übertitel. Doch nicht immer müssen die Zuschauer lesen, um zu verstehen, was gerade passiert. Zum Beispiel, wenn der famose João Terleira einen Aufständischen während der argentinischen Militärdiktatur spielt. Kurz bevor er im ersten Teil der Oper erschossen wird, kniet er auf dem Boden und schaut mit einem wimmernden Blick ins Publikum. Nur eine blaue Anzugshose und ein weißes Hemd trägt er da (Kostüm: Nina Lepilina).
Die neue Heidelberger „Maria de Buenos Aires“
- Entstehung: Der uruguayische Lyriker Horacio Ferrer war ein Verehrer des Tangos. Seine Besuche in Buenos Aires inspirierten ihn in seinem Schaffen und ließen ihn zum Argentinier Astor Piazzolla, Sohn italienischer Einwanderer, aufblicken. Aus einer Begegnung der beiden in den Fünfzigern entwickelte sich eine Freundschaft, die im Jahr 1968 in kreativer Vollkommenheit mündete: mit der Uraufführung der Oper „María de Buenos Aires“.
- Termine: 21.11 (Fr. 19.30 Uhr), 6.12 (Sa. 19.30 Uhr), 14.12 (So. 19 Uhr), 30.12 (Di. 19.30 Uhr), 13.1 (Di. 19.30 Uhr), 25.1 (So. 15 Uhr), 2.2 (Mo. 19.30 Uhr), 22.2 (So. 19 Uhr), 2.4 (Do. 19.30 Uhr), 4.4 (Sa. 19.30 Uhr).
- Info und Tickets: 06221/58.20.000. maz
Emotional wird es auch, als die „Madres“ auftreten. Im zweiten Teil der Oper wandern Frauen mit Windeln auf dem Kopf über die Bühne, die ihre verschleppten Kinder symbolisieren sollen. Dazu halten sie Plakate mit Bildern der Vermissten nach oben. Dass die Heidelberger Interpretation des Piazzolla-Werkes dem Schicksal dieser Menschen einen Platz einräumt, kann als Mahnung und Wegweisung zugleich verstanden werden. Mahnung deshalb, weil sie zeigt, dass einer der grausamsten Teile argentinischer Geschichte erst ein Jahrzehnt nach der Uraufführung stattfand und damit zu einem Zeitpunkt, als längst nach Liebe und Freiheit gerufen worden war.
Zugleich kann der Abend aber auch eine Wegweisung für Protest in der heutigen Zeit sein. In einer Zeit, in der zum Beispiel ukrainische Kinder nach Russland verschleppt werden. Was die Aufführung deutlich macht, ist, dass die „Madres“ aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten kamen. Doch was sie einte, war die Liebe zu ihren Kindern, für die sie ihr Leben riskierten, auf die Straße gingen – und damit die Verbrecher später sogar vor Gericht brachten. 1989 wurde dann einigen jedoch Amnestie gewährt, wie das Werk in seiner Schlusssequenz zeigt. Dort offenbart nun der immer präsente Geist seine wahre Identität. Diese reicht, so viel darf an dieser Stelle verraten werden, zurück bis tief in die Grausamkeiten der Diktatur. Und weil diese Szene erst ans Ende der Aufführung tritt, gibt es etwas, das weit über diesen Abend hinaus nachhallt: der Ruf nach Gerechtigkeit.
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