Heidelberg. Dieser Heidelberger „Krug“ beginnt ausnehmend stark: Die Band beginnt zu spielen („Baby, you mean everything to me“, singt Jules über einen im Zwielicht säuselnden Surfmusik-Chor), während daneben die junge Eve, gespielt von Nele Christoph, auf ihrem Bett liest. Ein jäher Schlag ertönt, die Musik verstummt. Oberhalb der Bühne zeigt eine Videoprojektion, wie sich jemand von außen dem Haus nähert: Ein gehörntes Zottelmonster, das geradewegs einer alpträumenden Verbindung aus schwäbisch-alemannischen Fasnacht und japanischer Dämonologie entsprungen scheint, tritt in ihr Zimmer.
Eve bietet ihm zögerlich Chips an. Das abgelegte Monsterhaupt wird später zur Perücke, die Dorfrichter Adam (Steffen Gangloff) bei seiner überstürzten Flucht verlor, als ihn Eves unvermittelt erschienener Verlobter Ruprecht (Aaron Finn Schultz) mit schweren Hieben aus deren Kammer geprügelt hatte.
Heinrich von Kleists „Der zerbrochne Krug“ ist ein „Lustspiel“, in dem es, jedenfalls vordergründig, um einen Dorfrichter geht, der, statt Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen, selbst zum Missetäter wird und Eve zu sexuellen Gefälligkeiten erpressen will. Wobei der im nächtlichen Gerangel zerschlagene Krug zum Gegenstand eines Verfahrens wird, das deren empörte Mutter Marthe (Katharina Ley) irrigerweise gegen Ruprecht anstrengt.
Das Stück ist Kleists meistgespieltes und obendrein Abiturthema in Baden-Württemberg. Auch das Mannheimer Nationaltheater hatte sich dem Stoff unlängst in einer ästhetisch bezwingend klaren und inszenatorisch nachhallenden Form gewidmet. Wobei dort Adam eine Ada und somit weiblich war, womit die Schuld von einer geschlechtsspezifisch verortbaren zu einer universellen Frage und zudem das Ende so verändert wurde, dass das korrumpierte System die Richterin schützte und ungestraft davonkommen ließ.
Heidelberger Fassung rückt den Fokus deutlich in Richtung Eves
In der von Katharina Schmidt und Roman Konieczny für das Theater und Orchester Heidelberg inszenierten Fassung ist – natürlich – vieles anders. Vor allem greifen die beiden auf die als „Variant“ bekannte Originalfassung des Endes zurück, das Kleist nach dem Misserfolg der Weimarer Uraufführung von 1808 (in der Regie von keinem Unbekannteren als Johann Wolfgang von Goethe) stark gekürzt hatte und worin Tat und Umstände ausführlich von Eve erörtert worden waren.
Überhaupt rückt die Heidelberger Fassung den Fokus deutlich in Richtung Eves, die mithin kein nachgerade nebenfigürliches Dasein führt, sondern als Zentrum des Stückes sichtbar gemacht wird. Immer wieder wird sie von der Live-Kamera eingefangen und auf die Videofläche über der Bühne projiziert.
Zum Stück
Katharina Schmidt, geboren in Augsburg, ist seit 2011 freie Regisseurin für Schauspiel und Musiktheater. Mit dem studierten Schauspieler Roman Konieczny, geboren in Karl-Marx-Stadt, mit dem sie auch Stücke entwickelt und gemeinsam inszeniert, arbeitet sie bereits lange zusammen.
„Der zerbrochne Krug“ ist die erste Inszenierung der beiden für das Theater und Orchester Heidelberg.
Die nächsten „Krug“-Aufführungen sind am 26. Oktober, am 4., 9., 15., 17. und 30. November (am 30. mit anschließendem Publikumsgespräch) sowie am 19. und 31. Dezember. Weitere Vorführungen folgen im Januar, Februar und März. Mehr Informationen und Karten: www.theaterheidelberg.de.
Die ganze Handlung spielt sich in ihrem Jugendzimmer ab, das Wolf Gutjahr (auch: Kostüme) in verschiedenen Ausführungen auf die Drehbühne gesetzt hat. Gänzlich in Orange ist es gehalten, was auf die UN-Kampagne „Orange the World“ verweist, die sich gegen Gewalt an Frauen und Mädchen richtet, wie Dramaturgin Maria Schneider in ihrer Online-Einführung berichtet.
Plastisch gelingt es, hier auch den Druck zu versinnbildlichen, den der Justizapparat auf diejenigen auszuüben vermag, die er doch schützen, denen er zu ihrem Recht verhelfen soll. In einer Szene drängelt sich etwa das kollektive Ensemble auf ihrem Bett, (be)drängt Eve zur Aussage. Niemand gewährt ihr Unterstützung oder Mitgefühl oder Verständnis. Das Stück lässt mithin die #MeToo-Debatte wieder aufflammen, setzt sich ebenso (wenn die Spielerinnen und Musikerinnen nach der Pause dem männlichen Publikum Anzüglichkeiten zurufen) mit dem gegenwärtigen Diskurs über das sogenannte Catcalling auseinander.
Schmidt und Konieczny arbeiten mit siebenköpfiger Figurenkonstellation – außer den Genannten sind das Gerichtsrat Walter (gemimt von Hendrik Richter), Schreiber Licht (André Kuntze), Ruprechts Vater Veit Tümpel (Marco Albrecht) und Frau Brigitte (Elisabeth Auer), die in kompetentem Spiel Lautheit mit differenzierten Zwischentönen verquicken. Vor allem reüssieren die Antipoden Adam, den Steffen Gangloff mit vierschrötiger Ruchlosigkeit und jovialem, männerbündischem Charisma verkörpert, und Eve, die Nele Christop mit durchdringend klarer, kraftvoller Sensibilität zeichnet.
Musik ist mehr als nur schmuckes Begleitwerk
Die Männer tragen Anzüge (wahlweise auch Bademäntel) und Perücken (außer Adam). Peu à peu, wie im Zeichen zunehmender Verbrüderung, entblößen sie indes die eigenen, darunterliegenden Glatzen. Alle Frauen, so auch die Musikerinnen, sind in maritim anmutende Schuluniformen mit Bluse und kurzem Faltenrock gekleidet, wodurch wiederum Eves Präsenz als Protagonistin verstärkt wird.
Die Musik ist hier kein schmuckes Begleitwerk, sondern integraler Bestandteil des Stücks. Wobei die Band mit Singer-Songwriterin Julia „Jules“ Nagele (Leadgesang, Keyboard), Gitarristin Josie Stickdorn (wie Nagele ebenfalls Popakademikerin), der Mannheimer Musikhochschulabsolventin Katharina Gross am Bass und der in Stuttgart studierten Jazzschlagzeugerin Lisa Wilhelm hochkarätig besetzt ist.
Die Songs und scharf geschliffenen Soundsplitter, wie sie von dem schwedischen Musiker Pär Hagström für das Stück komponiert und von dem Quartett gespielt werden, sind selbst kein geringes Ereignis: Der Soundtrack changiert zwischen einem Noise-Pop, Garage Rock und Riot-Grrrl-Punk, der im Bandgeiste von Sleater Kinney, Cramps oder Sonic Youth revoltierend den Klavierlack einer vordergründig heilen Gesellschaft zerkratzt und zugleich den abgründigen, mitternächtlichen American-Diner-Jazz von David-Lynch-Komponist Angelo Badalamenti zitiert, der einen das Unheil erfühlen lässt, das hinter den in Neonfarben lächelnden Fassaden lauert.
Bühne und Spielende sind fast fortlaufend in (bisweilen aufgedreht wirbelnder) Bewegung, allenthalben geht es knallig zu, Schriftzüge und grell stilisierte Videosequenzen flackern über die Projektionsfläche. Auch das erweiterte Ende setzt einen aktuellen Knalleffekt: Adam, der sich nun mit ausladender Geste als Opfer stilisiert, kehrt in bester politisch-medialer Populismus-Manier auf die Bühne zurück. Manches mag da stellenweise ein wenig plakativ erscheinen. Aber Wirkung und Botschaft verfehlt diese sehr sehens- und hörenswerte Inszenierung nicht.
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