Mannheim. Im Grunde, sagt Ministerpräsident Mateusz, „ist Politik ein Spiel mit Kulissen, es ist wie im Theater: Vorne hast du die symbolische Handlung, dahinter die Technik.“ Und hier im Theater, so lässt sich sinnieren, wird hinter der Macht-spiegelnden Maske der Politik die große Tragikomödie der Menschheit erkennbar, eine schwindelnde Farce, die aus den Hoffnungen und Verfehlungen ihrer irrlichternden Akteure verfertigt wird. Und um auf die Triebkraft der Symbolik im Stück „Die Erweiterung“ zu sprechen zu kommen, das Regisseurin Anna-Elisabeth Frick nach dem gleichnamigen Roman von Robert Menasse als Uraufführung am Mannheimer Nationaltheater inszeniert: Ein wesentliches Agens, um den Beitrittsprozess Albaniens in die EU zu beflügeln (was der Grundstrang der Handlung ist), sieht der Dichter und Regierungsberater Fate Vasa (von Maria Munkert entzündlich-konspirativ gespielt) im legendären Helm des albanischen Nationalhelden Skanderbeg, der im 15. Jahrhundert erst dem osmanischen Reich diente, später Venedig und Neapel gegen jenes verteidigte.
Name des Schiffs spielt auf Nazi-Deutschland an
Die Kopfzierde, die bald aus dem Kunsthistorischen Museums in Wien verschwindet, soll die Einheit aller Albaner beschwören. Dieser Helm, eröffnet Vasa seinem Brokat-bemäntelten Ministerpräsidenten (Euphorie-trunken jovial: Sandro Šutalo), „ist die Waffe.“ Auf die Jungfernfahrt eines Schiffs namens „SS Skanderbeg“ wird die albanische Regierung auch die versammelte europäische Führungsriege einladen. (Realiter gab es Ende des Zweiten Weltkriegs eine „Skanderbeg“-Division der Waffen-SS – auch das wird im Stück angerissen.)
In Menasses 650-Seiten-Roman gibt es unterhalb der Handlungsdecke um die albanische EU-Beitrittskandidatur ein paneuropäisches Personengeflecht samt kaleidoskopisch interagierender Geschichten und Verstrickungen. Auch wenn Regisseurin Frick und Dramaturgin Annabelle Leschke den Stoff für ihre Bühnenfassung radikal verdichtet haben (die Premiere dauert vergleichsweise kompakte 100 Minuten), könnte man im Zuge der theatralen Geschwindigkeit und Mehrfach-Rollenbesetzungen leicht die Orientierung verlieren. Aber dank eines konzise einordnenden Erzählers (glänzend: Matthias Breitenbach), rasch gewechselter markanter Kostüme (Sophie Lichtenberg) sowie eingeblendeter Orts- und Zeitangaben findet man sich erstaunlich gut zurecht. Und während sich das Stück anfänglich, nach einem (auch buchstäblichen) Warmlaufen auf der von Martha-Marie Pinsker in maritimem Blau ausgekleideten und mit mobilen Wolken verhangenen Bühne, noch etwas fahrig umherstiebend in Bewegung setzt, gewinnt es bald an Richtung und konzentrierter Verve – und bindet uns zunehmend an die Figuren. Etwa an den hohen Kommissionsbeamten Adam Prawdower (packend: Maria Helena Bretschneider), einst ein Solidarność-Kämpfer gegen den Kommunismus, der auf seinen alten Eid-Bruder und heutigen polnischen Ministerpräsidenten Mateusz (herrlich flamboyant: Paul Simon) wegen dessen Hinwendung zum Nationalismus ein Attentat verüben will.
Abschiedsbrief an den Ministerpräsidenten
Die Begegnung zwischen beiden in Warschau wird zu einer Kernszene: „Die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation ist die Empathie“, meint Mateusz. „Wir wollen keinen muslimischen Staat in der EU. Verstehst du?“ Eindrücklich gerät ebenso die Selbstverbrennungsszene des – realhistorischen - polnischen Regimegegners Piotr Szczesny, verkörpert von Rocco Louis Brück, der sich in flackernden Lichtblitzen windet und sich hiernach einen wütenden, nie zugestellten Abschiedsbrief an den Ministerpräsidenten aus dem Leib schreit: Eine „Freiheit der Lüge“ habe sich demnach durchgesetzt, die sich „kaum unterscheidet von den Zeiten der Diktatur.“
„Die Erweiterung“ im NTM
Regisseurin Anna-Elisabeth Frick hat am Mannheimer Nationaltheater (NTM) zuvor mit „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ ebenfalls eine Romanadaption inszeniert, nach Thomas Mann.
„Die Erweiterung“, 2023 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet, ist die Fortsetzung von Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt“, der 2017 den Deutschen Buchpreis erhielt und als erster Roman über die Europäische Union gilt.
Die nächsten Vorstellungen von „Die Erweiterung“ im Alten Kino Franklin des NTM stehen am 27. Mai und 14. Juni, jeweils 19 Uhr, auf dem Spielplan. Karten und Infos gibt es online unter www.nationaltheater-mannheim. mav
Fricks „Die Erweiterung“ ist einerseits eine in schrillen Farben gezeichnete Polit-Satire, angereichert mit Slapstick-Elementen und Choreografien - wie etwa einem wundersam verschrobenen Folklore-Mimesis-Schiffstanz. Daneben aber gibt ihre Inszenierung auch emotionalen Zwischentönen Raum: So der Figur des nachdenklichen Pressesprechers der albanischen Regierung, Ismail Lani (Simon), der der Radiojournalistin Ylbere Lenz (Šutalo) näher kommt. Oder in Gestalt des linkischen österreichischen EU-Juristen Karl Auer (Munkert), der sich in die albanische Regierungsabgeordnete Baia Muniq (ätherisch-artifiziell: Brück) verliebt.
Ein tödliches Norovirus rafft beim Schiffs-Showdown schließlich alle dahin, und als das lautstarke Siechen sein Ende findet, wird noch eine erlahmende „Ode an die Freude“ gefiedelt. „Der Helm des Skanderbeg ist das Symbol für ein geeintes Albanien“, hat Sandro Šutalo zuvor angemerkt. „Was ist das Symbol für ein geeintes Europa?“ Eine nachhallende Frage.
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