Mannheim. Die in Schwarz gekleidete Musikkapelle schreitet voran, die Besucherinnen und Besucher folgen, die Nachhut bilden fünf Ovaherero-Reiter in ihren dunkelblauen Uniformen. Ein Stück weiter neckaraufwärts halten alle inne. Der namibische Lyriker und Autor Prince Kamaazengi Marenga trägt hier ein Gedicht vor, worin die Jahre zwischen 1904 und 1908, die Flucht, Verfolgung und die Verbrechen, die das Deutsche Kaiserreich an seinen Vorfahren verübte, auf schmerzvoll eindringliche Weise lebendig werden. Kanonen speien in diesen Zeilen Donner, Körper schlucken Kugeln. Es seien dies die „Geschichten, die unsere Großmütter uns erzählt haben“, sagt der Dichter.
Gedenken und Reflexion: Eine Parade der Erinnerung
Die Gedenkprozession, die Parade entlang der Neckarstädter Uferseite trägt den Titel „unwritten archives – a parade for the 21st century“. Mit ihr werden zugleich die „Wunder der Prärie“ eröffnet, das internationale Live-Art-Festival des Mannheimer Kunst- und Performance-Hauses Zeitraumexit, das dieses Jahr unter dem Titel „Theaters of War(s)“ steht. „80 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges und in einer Zeit, in der aktuelle Krisen und Kriege auch uns in Europa erschüttern“, lade Zeitraumexit hierbei dazu ein, „unsere kriegerische Geschichte und Gegenwart aus verschiedenen zeitlichen und geografischen Perspektiven zu befragen“, notiert Oberbürgermeister Christian Specht in seinem Programmgrußwort.
Erinnerung „an den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“
Klaffende Wunden riss unsere kriegerische Geschichte auch im heutigen Namibia, das als „Deutsch-Südwestafrika“ von 1884 bis 1915 unter der Herrschaft des Kaiserreiches stand. Dem Völkermord, den die Kolonialmacht dort am Volk der Herero und Nama verübte, fielen Zehntausende zum Opfer: Drei Viertel der Ovaherero und die Hälfte der Nama-Bevölkerung wurden ermordet, berichtet der Regisseur und bildende Künstler Sebastian Hirn, der das Festival zusammen mit Zeitraumexit-Leiterin Johanna Baumgärtel kuratiert und mit ihr auch „unwritten archives“ konzipiert hat.
„Jedes Jahr gedenken die betroffenen Communitys der kolonialen Verbrechen und gedenken der verstorbenen Vorfahren in einem Erinnerungszug.“ Und jetzt wird auch hier gemeinsam „an den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ erinnert, „um in einen Prozess der Begegnung zu treten und die Wunden der Vergangenheit zu heilen“. Die von Friedrich Stockmeier glänzend in Töne gesetzte und live gespielte Komposition für Bläser und Schlagwerk entledigt sich – wie in einer Gegenbewegung zu Besetzung und performativem Kontext – den Fesseln einer Marschmusik. Es scheint fast, als reflektierte sie über die Möglichkeiten einer freien, selbstbestimmten Bewegung im Klangraum.
Bald bleiben die Pferde zurück, die Menschen aber bewegen sich zum Zeitraumexit, genauer: in die alte, offene Halle dahinter. Dort liest Jamie Dau, Referent für Provenienz und Archive der Reiss-Engelhorn-Museen, Inventarlisten namibischer Kulturgegenstände vor, die im Museumsdepot gelagert sind – eine schier endlose Litanei, während der wir in einer Videoprojektion Prince Kamaazengi Marenga durch die Archive wandern sehen. In ausdrucksstarkem Vortrag, teils mit Gesang verbunden, rezitiert der Lyriker hiernach weitere Gedichte – und gibt am Ende namibisches Bier an die Gäste aus. Es gibt viel zu reden.
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