Mannheim. Ist das wirklich passiert? Es ist zu schön, um nicht wahr zu sein: Haben westdeutsche und jugoslawische Schauspieler der berühmten „Winnetou“-Filme aus den 1960er Jahren tatsächlich – damals systemübergreifend – Geld gesammelt, um es 1973 als Spende an rebellierende Nachfahren US-amerikanischer Ureinwohner zu übergeben? Moderatorin Cornelia Geißler will das beim „Lesen-Hören“-Gespräch mit Clemens Meyer in der Mannheimer Alten Feuerwache von dem Autor wissen, der darüber in seinem Roman „Die Projektoren“ schreibt. „Es ist so gut, dass es stattgefunden haben muss“, antwortet er augenzwinkernd. Nur um später zu gestehen: „Ich hab’s mir ausgedacht.“
Karl May als Grundmotiv
Eines wird klar an diesem Abend: Meyer besitzt eine derart überwältigende erzählerische Kraft, dass er einem jeden Bären aufbinden könnte – man würde es ihm glauben. „Die Projektoren“, ein gewaltiger 1000-Seiten-Roman, an dem der Schriftsteller zehn Jahre lang gearbeitet hat, strotzt nur so vor überbordender Fabulierlust. Er schickt seine Leser auf eine turbulente Schlingerfahrt, die durch 150 Jahre führt – von einer Heilanstalt in Leipzig, in der 1875 ein Dr. May gewesen sein soll, der als „Phantast“ und „weltberühmter Unterhaltungsschriftsteller“ bezeichnet wird, bis ins Jahr 2015, in dem die Geschichte eines mysteriösen Mannes endet, den alle Cowboy nennen; er hat als Kind den brutalen Überfall der Nazi-Wehrmacht auf Jugoslawien miterlebt und in den 1960ern bei den Karl-May-Filmen mitgewirkt. Gewalt und Kriegsgräuel bilden dabei eine motivische Klammer, die den Zweiten Weltkrieg, den jugoslawischen Bürgerkrieg und die Vernichtung der indianischen Ureinwohner durch die USA umschließt.
Sprachliche Virtuosität beeindruckt
In den drei Ausschnitten des Romans, die Meyer liest, wird deutlich, dass der mitreißende Strom seiner Erzählung sich verzweigt in viele Nebenflüsse (die immer wieder unversehens zusammenfließen), sich an Katarakten bricht, in denen sich die Richtung plötzlich ändert, an Stromschnellen das Tempo beschleunigt und in vielen unvorhersehbaren Windungen schlängelt. Ständig ändert sich die Tonlage: realistisch, expressiv, märchenhaft, absurd, poetisch.
Zeitebenen wirbeln durcheinander, Rückblenden wechseln mit Vorschauen. Man weiß nicht, was man an alldem mehr bewundern soll – das hochvirtuose sprachliche Vermögen, die unerwarteten Überraschungsmomente, den Detailreichtum der penibel recherchierten Fakten oder die unglaubliche Fülle an Einfällen.
Es scheint, als habe Meyer den Kopf permanent voller Ideen. Ein Eindruck, der sich während des lebhaften Dialogs mit der Literaturkritikerin bestätigt: Meyer springt zwischen Themen hin und her, schweift ab, muss öfter nachfragen: „Wo waren wir jetzt?“ Geißler versucht mit sensiblen Fragen etwas über den Entstehungsprozess des Werkes zu erfahren.
Meyer sagt, klar sei ihm gewesen, „Historie und Phantastik“, Groteske und Krieg miteinander zu verschränken, ebenso gesetzt waren das Fragmentarische, die Verfremdungen und wechselnde Erzähltempi. Er berichtet aber auch von Phasen kreativen Stillstands. Man hört zu und kommt zum Schluss: Seit Günter Grass gab es in Deutschland wohl keinen Autor von solcher Wortgewalt, Opulenz und Kühnheit.
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