Nationaltheater

Döblin-Lesung in der Mannheimer Kunsthalle: Psychogramm einer Gesellschaft

In der Kunsthalle Mannheim lesen NTM-Schauspieler Alfred Döblins Erzählung „Die Ermordung einer Butterblume“ von 1912. Sie porträtiert eine stürzende Gesellschaft.

Von 
Christel Heybrock
Lesedauer: 
Tatort eines Mordes? Könnte sein – der Bergwald in Ernst Ludwig Kirchners Bild „Frauenkirch im Herbst“ in der Expressionisten-Schau der Kunsthalle Mannheim ähnelt dem Tatort in Alfred Döblins Erzählung. © Manfred Rinderspacher

Mannheim. Michael Fischer tut sich schwer, wenn er mal nicht im Firmenkontor sitzt. Auf dem Weg durch den Wald hinauf nach St. Ottilien wird er gar zum Mörder – er schlägt einer Butterblume den Kopf ab, was ihn zwischen Triumph und Schuldgefühlen in existentielle Verunsicherung stürzt. Alfred Döblins Erzählung „Die Ermordung einer Butterblume“ von 1912 passte so gut in die aktuelle Expressionisten-Schau der Kunsthalle, dass Matthias Breitenbach und Boris Koneczny vom Nationaltheater sie als Lesung ins Rahmenprogramm nahmen – sogar ein farbensattes Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner ist dem fiktiven Tatort aus der Erzählung ähnlich.

Die Besucherschar, die wegen der Lesung erschienen war, wurde geteilt und wechselte nach einer guten halben Stunde den Standort. Die einen scharten sich erstmal um das Bild, wo sie unter anderem die Information erhielten, dass Kirchner und Döblin eng befreundet waren. Nach dieser Einführung ging es hinauf in die Abteilung kinetische Kunst, wo Breitenbach und Koneczny sich den Text der Erzählung teilten – und zwar im „Resonanzraum“ der Performance- und Installationskünstlerin Nevin Aladag.

Breitenbach und Koneczny akzentuieren den Text mit Klangobjekten

Breitenbach, mit Spazierstock – bei Döblin schlägt Fischer der Butterblume mit seinem Stock den Kopf ab –, und Koneczny, in Haltung und Würde dezent Geschäftsmann, konnten in diesem Raum tönende Kunstwerke aktivieren. In den Ecken sind originelle Instrumente installiert, ein Glockenspiel, zwei harfenähnliche Saiteninstrumente und ein von Trommelhaut überzogenes Objekt. Mit den immer mal kurz bearbeiteten Klangobjekten akzentuierten die beiden Erzähler den Text, wobei man hervorheben muss, dass sie dem Wort seinen Rang ließen und behutsam auf jede schauspielerische Dramatik verzichteten. Allein durch das gesprochene Wort und sparsame Gestik vermittelten sie Fischers Zerreißproben.

Döblins Erzählung ist so exzentrisch, dass man sich unwillkürlich eine stürzende Gesellschaft vorstellt. Der Text spielt mit dem Gegensatz vertrockneter wilhelminischer Bürgerlichkeit und deren unterdrücktem Lust- und Aggressionspotential. Während Michael Fischer im Bergwald seine Kontenance verliert, streift ihn die Horrorvorstellung, ein Geschäftspartner „oder eine Dame“ könnten ihn so sehen. Denn der Mord an der Butterblume ist der Mord an einer Lebensform.

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Die Natur in Form der Butterblume wird auch symbolisiert durch das Prinzip Frau. Herr Fischer triumphiert zunächst über dieses Prinzip, will dann schuldbewusst heilen, indem er eine andere Blume ausgräbt und zuhause in einen Topf stellt, womit er der „Tochter“ den Vorrang gegenüber der „Schwiegermutter“ gibt. Aber was für ein Triumph, als die Haushälterin den Blumentopf zerbricht und alles in den Müll wirft: Fischer ist schuldlos an diesem Sieg! „Er hatte den Wald übertölpelt … In Gedanken schwang er schon sein schwarzes Stöckchen. Blumen, Kaulquappen, auch Kröten, sollten daran glauben. Er konnte morden, so viel er wollte.“

Döblins Text ist ein Psychogramm, das vielen Exponaten der Ausstellung, und nicht nur den Gemälden zugrunde liegt – das einer aus den Fugen geratenden Gesellschaft.

Freie Autorin MM Kulturredaktion 1974-2001, Fachgebiet Bildende Kunst

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