Mannheim. Es ist ein so imposanter wie imaginativer Anblick: Ein gewaltiges, unregelmäßig geformtes Bodenfragment dreht sich unablässig auf der Schauspielbühne im Alten Kino Franklin. Die Oberfläche ist gekachelt, darunter sind verschiedene Sedimentschichten auszumachen. Es wirkt, als hätte eine Riesenhand ein Gebäudeteil aus der Erde gerissen und ins All geschleudert, wo es nun seine endlosen, einsamen Bahnen beschreibt. Wie von Satelliten ist es von weiteren, kleineren Bruchstücken, von Kronleuchtern und Stühlen umgeben, die an Seilen vom Schnürboden hängen.
Es ist dunkel im Saal, als sphärische, schnell pulsierende Elektronikklänge aus den Lautsprechern dringen. Im Monolithen öffnet sich eine blau ausgeleuchtete Luke, und heraus tritt das Ensemble von Heinrich von Kleists Stück „Der zerbrochne Krug“, das in der Regie von Anna-Elisabeth Frick am Mannheimer Nationaltheater Premiere feiert, um alsbald eine rituell anmutende Choreografie zu zelebrieren. Rasend schnell drehen dazu die Zeiger einer hängenden Uhr die Zeit zurück.
Die verborgene Schuld des Dorfrichters Adam
„Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt / Den leid’gen Stein zum Anstoß in sich selbst“, sagt zu Beginn die zentrale Figur, die das Richteramt im Ort ausübt und deren Gesicht von einer groben Verletzung verunziert ist. Gestrauchelt ist sie, aber in ganz anderer Weise, als sie es erst dem Gerichtsschreiber Licht und später der restlichen Dorfbevölkerung glauben machen will. Wir wissen: Durch die schändliche Erpressung, dass ansonsten ihr Verlobter als Soldat zum lebensgefährlichen Ostindien-Einsatz gesandt werde, wollte sich Dorfrichter Adam in Kleists Stück die junge Eve zu Willen machen.
Es geht also um Machtmissbrauch, um Nötigung und sexualisierte Gewalt – so sehr auch das Stück dem Rahmen und Namen nach ein Lustspiel- und Satire-Klassiker sein mag. Als Ruprecht den (unerkannt gebliebenen) Richter auf nächtlicher Tat bei seiner Verlobten überrascht und buchstäblich in die Flucht schlägt, geht auch der von Eves Mutter Marthe innig geliebte Titel-Krug zu Bruch. Was Marthe vor Gericht allerdings dem Schwiegersohn in spe anlasten will.
Kleists Schauspiel in Mannheim
- Das Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ von Heinrich von Kleist wurde 1808 am Hoftheater in Weimar uraufgeführt. Diese Inszenierung unter der Leitung von Johann Wolfgang von Goethe war ein Misserfolg und endete in einem Pfeifkonzert. Erst zehn Jahre später wurde das Stück zu einem Erfolg und avancierte schließlich zu einem der populärsten Werke des Dichters.
- Regisseurin Anna-Elisabeth Frick inszenierte am Nationaltheater bereits die Luis-Buñuel-Filmklassiker-Adaption „Der Würgeengel“ (Spielzeit 2018/19), „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ nach Thomas Mann (2020/21) und „Die Erweiterung“ nach dem Roman von Robert Menasse (2024/25).
- Die nächsten „Der zerbrochne Krug“-Vorstellungen im Alten Kino Franklin finden am 4., 19. und 23. Oktober jeweils um 19 Uhr statt. Am 23. gibt es dazu um auch 18.30 Uhr eine Kurzeinführung. Weitere Termine sollen folgen und jeweils am Ende des Vorvormonats bekannt gegeben werden.
- Info hier und unter: 0621/1680.150.
Frick bleibt dem Kleist’schen Text treu, reduziert aber die Personenkonstellation und ändert Entscheidendes an der Handlung und Figurendisposition. Dazu zählt, dass der Schurke des Stücks, Richter Adam, hier eine „Frau Richterin“ ist und Ada heißt – gespielt von Maria Munkert.
Das ist, in diesem besonderen Kontext, eine mutige Regieentscheidung. Lenkt es doch das Augenmerk von einem potenziell geschlechtsbezogenen Ansatzpunkt hin zur universellen Verantwortung des Individuums; welches gleichwohl in systemische Strukturen eingebettet ist, die spezifisches (Fehl-)Verhalten billigen oder, mehr noch, fördern und gedeihen lassen können. Wie es sich am alternativen Ende zeigen wird – doch dazu später mehr.
Der Gerichtsschreiber Licht ist hier mit Elodie Toschek und Pablo Weller de la Torre, Schauspielstudierende der Frankfurter Hochschule, doppelt besetzt. Sie sprechen die Rolle versetzt oder chorisch, zeichnen Licht dienstbeflissen, dabei durchaus hintersinnig und in eigener Sache ehrgeizig. Munkerts Ada laviert äußerst wendig und gelenkig zwischen jovial-intrigantem Schmeicheln und unverblümter Drohung, um die Wahrheit zu vertuschen und allzu gern einen Unschuldigen an eigener Stelle büßen zu lassen. Immer wieder muss ihm Gerichtsrat Walter, den Fabian Dott souverän als gestrengen, distinguierten Beamten auftreten lässt, in die Parade fahren. Großes, lustvolles Schauspiel zeigt Ragna Pitoll, wenn ihre Marthe zwischen flammendem Furor und Weinseligkeit changierend die Krug-Klage erhebt.
Paul Simon verkörpert den Bauernsohn Ruprecht gewinnend als zwar einfältigen, aber durchaus wehrhaften und unerschrockenen Charakter. Maria Helena Bretschneider gibt eindrücklich die Eve, die mit sich ringt und sich windet, im Unvermögen, die Wahrheit zu bekennen, ohne den Verlobten zu gefährden. Zum Schweigen verdammt wirkt sie, wie buchstäblich an die Erde gefesselt. Dazu kommt die geheimnisvolle Figur der Frau Brigitte (schillernd sibyllinisch: Rahel Weiss), die während fast der ganzen Stücklänge an den Rändern der Bühne (und zwischenzeitlich auch im Zuschauerraum) agiert, bis sie mit ihrer nachgerade orakelhaften Aussage vor Gericht dem Prozess eine entscheidende Wendung gibt.
Gekleidet sind sie alle in uniforme, blaue und lachsfarbene, Gewänder (Kostüm: Martha-Marie Pinsker, die auch für das fabelhafte Bühnenbild verantwortlich zeichnet), auf denen Krug-Embleme prangen. Auf den Häuptern wird durchweg bläulich schimmerndes Kunsthaar getragen, nur Ada tritt ohne Perücke auf, hat sie das richterliche Würden-Insigne doch bei der überstürzten Flucht verloren. Die wohlbekannte Adam-und-Eva-Sündenfall-Referenz wird, nicht ganz subtil, durch einen wiederkehrenden Apfel-Motiv-Einsatz bebildert.
Unterbrochen wird das Schauspiel immer wieder von Hannes Strobls elektroakustische Kompositionen, die durch choreografisch-performative Ensembleszenen (Choreografie: Ted Stoffer) in Bewegung und Pose verwandelt werden. Atmosphärisch wie stilistisch ist das ansprechend in Szene und Töne gesetzt, und es bildet zugleich einen spannungsreichen Kontrast von klassischer Kunst-Sprache und moderner Musik. Zugleich wird dadurch der Spielfluss sequenziert und Distanz geschaffen.
Das Ende, wie schon angedeutet, weicht von der Kleist’schen Vorlage ab: Denn Walter, obschon er endlich erkannt hat, wer die wahre Missetäterin ist, trachtet danach, Ada zu schützen: Keine Entlarvung, keine Enthüllung ihrer erpresserischen Machenschaften, keine Flucht und (milde) Bestrafung mittels Amtsenthebung erfolgt hier. Stattdessen wendet der Gerichtsschreiber sich – im Einklang mit Ada – von der jungen Frau ab, und die Dorfbewohner gehen andächtig auf die Knie.
Das System schützt und erhält sich hier also selbst, und sei es auf Kosten von Wahrheit und Gerechtigkeit. Das wirkt ein wenig unvermittelt, vor allem angesichts der vorausgegangenen Unbestechlichkeit Walters. Aber zugleich schärft die sehenswerte Inszenierung so den kritischen Blick auf die institutionelle Verdorbenheit, auf Korruption und Heuchelei, die Kleists Stück innewohnt.
So sah „Der zerbrochne Krug“ vor zwölf Jahren am Nationaltheater Mannheim aus
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-regionale-kultur-der-zerbrochne-krug-premiere-am-nationaltheater-mannheim-_arid,2330985.html