Mannheim. Das Licht dimmt, die Türen schließen, das Tuscheln sinkt auf Pianissimo. Der 1. Vorsitzende des Nationaltheater Orchesters Fritjof von Gagern tritt vor, holt zuerst die Welt von draußen herein: Debatten, in denen Zahlen regieren, Haushaltspläne, Kitas, Budgets. Dann der Bogen zum Abend: „Rechnet, wie ihr wollt, aber nicht gegen die Musik.“ 302 Neuabonnements für diese Spielzeit, sagt er noch; im fast ausverkauften Rosengarten geht ein Raunen. Dann rückt der SWR ein letztes Mikro einen Fingerbreit nach, Stille, nicht als Schluss, sondern als Auftakt.
Ravel lässt den Morgen nicht aufgehen, er lässt ihn wachsen. In „Daphnis et Chloé, Suite Nr.2“ perlt die Harfe wie Tau, Flöten spannen helle Linien, die Streicher schimmern im Flageolett, und aus dem Halbdunkel treten weiche, breite Hörner. Feine Dissonanzen rauen die Oberfläche an und geben ihr Kontur. In der „Pantomime“ übernimmt die Oboe mit trockener, zarter Stimme, die Klarinette antwortet geschmeidig; in der „Danse Générale“ treiben Schlagwerk und Becken die Energie nach vorn.
Im Sog des Bogens: Daniel Müller-Schott im Mannheimer Rosengarten
Kaum hat die Sonne Platz genommen, krabbelt die Realität zurück: Stative wandern seitwärts wie Strandkrebse, jemand richtet noch ein Mikro. Dann betritt Daniel Müller-Schott den Raum, als käme er von einer freundlichen Verschwörung zurück, nickt in den Saal, man liest ein „‘nen Abend“ von seinen Lippen und Saint-Saëns geht wie ein kalter Fluss über die Haut: ein Akkord vom Orchester, und das Cello stürzt hinein.
Er spielt nicht vor, sondern mitten im Klangkörper, holt das erste Pult zu sich her, verknüpft seinen Atem mit dem federnden Schlag von Roberto Rizzi Brignoli. Töne steigen aus der Kehle, er brummt kurz, als würde er seinem Instrument Vorsilben geben; ein quiekender Ton erschreckt, und im selben Moment ist er bereits in Linie verwandelt, als wäre der Fehltritt nur ein Gewürz.
Zum Konzert
Programm: Ravel (Daphnis et Chloé, Suite Nr. 2, La Valse), Saint-Saëns (Cello-Konzert a-Moll), Mussorgski (Bilder einer Ausstellung, Orchestrierung von Maurice Ravel).
SWR Kultur sendet den Mitschnitt am 23. November, 20.03 Uhr (Abendkonzert). jau
In den Orchesterstellen tupft er seine Stirn, schnäuzt, die Erkältungszeit macht vor niemandem halt, und doch bleibt die Spannung wie eine gespannte Saite im Raum. Die Virtuosität: sauber wie frisch gezogene Tusche; manchmal ein Hauch zu viel Druck aus Euphorie, aber der Ton bleibt nobel und farbig.
In der Reprise beginnt das Orchester zart, Müller-Schott fährt mit dem Kopf in die Bögen, Haarsträhnen wie kleine Taktfahnen, und plötzlich spielt das Orchester intensiver, als läge der Puls in seinen Schultern. Dirigiert er besser als der Dirigent, oder hört man einfach lieber auf den, der gerade brennt? Vielleicht ist es die addierte Energie: Brignolis Geste plus die magnetische Körperrede des Solisten. Die Glissandi scheut er nicht, er kostet sie, französisch, aber mit Herz. Dass das Werk aus einer kriegsgesättigten Zeit stammt und ohne Satzpause in einem Atemzug läuft, spürt man: kein Stop, kein Reset.
Der Applaus will ihn groß machen, doch er macht sich klein. Zuerst klatscht er dem Orchester, bedankt sich beim Publikum. Ein Raunen geht durch den Saal bei der Zugabe: Bach – Gigue aus der 3. Cellosuite. Schnell, hell, beinahe modern, als würde jemand neue Fugen in altes Mauerwerk setzen. Der Saal jubelt, er bleibt bescheiden: Abgang des Boten, nicht des Helden.
Mozartsaal im Rosengarten verwandelt sich in eine Galerie der Klänge
Nach der Pause verwandelt sich der Saal in eine Galerie. Modest Mussorgskis kantige Klavierskizzen, von Ravel instrumentiert, weil der Meister der Farben aus Strichen Räume schafft. Die Trompete nimmt einen bei der „Promenade“ an die Hand. „Das alte Schloss“ hängt bernsteinfarben im Alt-Saxofon. In den „Katakomben“ riecht die Luft nach Stein und Staub, das Blech fällt wie kaltes Licht. Rizzi Brignoli lässt gehen, vertraut der Architektur: nicht laissez-faire, eher ein gutes Loslassen. Ein paar Spritzer Realität kurz vor Schluss, hier und da ein falscher Bläserton, aber das „Große Tor von Kiew“ wächst trotzdem wie ein Triumphbogen, den die Percussion mit Pauken und Becken zu Ende schmiedet. Fulminanter Schluss, schwerer Applaus, standing ovations, das könnte das Ende des Abends sein.
Und doch geht es weiter: Ravel, „La Valse“. Derselbe Ravel, andere Wahrheit. Das Orchester tanzt schneidend schön: Streicher treiben, Kontrabässe lassen den Boden mitfedern, die Harfe knallt wie ein Champagnerkorken. Darüber glitzert die Triangel, die Becken sprühen Funken, die kleine Trommel schneidet Konturen, die große Trommel saugt Tiefe an, die Pauken rollen, und ein dunkles Tam-tam legt Schatten unter den Strudel. Es ist großartig gespielt, und am Ende wirkt das Publikum schlicht platt: leergepustet, als hätte der Walzer die Luft aus der Nacht gewirbelt.
So fügt sich der Abend wie ein vierteiliges Mosaik, dessen Steine ineinander übergehen: Morgengrauen, das die Gegenwart ausleuchtet; ein Cellist, der den Bogen über Krieg und Atem zieht; ein Museumsrundgang, der mit Pauken endet; ein Walzer, der die Maske lüftet. Und über allem die erste, kleine Geste: Stellt Zahlen gegeneinander, wenn ihr müsst, aber nicht gegen die Musik. Heute hat sie sich selbst gerechtfertigt.
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