Das Schönste am Theater, seien wir mal ehrlich, ist doch die Tatsache, dass sich der Mensch nicht ändert. Er sollte, müsste gar, will er die - und somit auch seine - Welt retten. Doch tut er’s? Meist ist ihm das Bisschen an erworbenem, ererbtem, verdientem oder unverdientem Wohlstand, die eigene, unbehelligte Bequemlichkeit doch wichtiger als konsequente Konsequenz in allen heilsamen, weltbewahrenden oder gar weltverbessernden Belangen.
Das Theater im Theater um diese Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens freut uns da ganz besonders, wo wir als Zuschauer sehen: „Sieh da, das wusste schon...“ Euripides, Shakespeare, Schiller - oder eben Henrik Ibsen vor 2500, 450, 250 oder 135 Jahren. Wer glaubt, den biologisch vernunftbegabten Menschen und seine willentliche Unvernunft zu kennen, wird eben im Theater immer wieder auf das Schönste bestätigt und doch auch überrascht.
Das gilt auch für das Nationaltheater Mannheim, das im Alten Kino Franklin nicht nur plangemäß mit Ibsens Menschen- und Kapitalismuskenntnis überrascht, sondern auch mit der Premiere einer Schauspielaufführung, die ebenda diesen Namen endlich einmal verdient. Das gesprochene Wort gilt etwas, in Katrin Plötners Regiearbeit.
Das gesprochene Wort gilt etwas
Kein Alleinunterhalter, nirgends, auch kein Plüsch, kein überdrehtes Geschrei, kein Chor, kein Textteppich. Nicht mal ein Jammerbarde an der Rampe, und auch die Lautsprecher verbreiten keine dramaturgisch-intellektualisierend nachgereichte Pop-Song-Emotionalität, die post-postdramatische Spielweisen mit Text nicht mehr zuliefern bereit sind. Als Mann des Wortes könnte man trotz getanem Blick in die menschliche Abgründe weinen vor Glück. Als Frau des Wortes freilich auch, heißt die Aufführung in Mannheim doch „eine Volksfeindin“, denn aus Badearzt Thomas Stockmann wird hier in Gestalt von Maria Munkert die Ärztin Thea Stockmann. Das ist erfreulich unspektakulär, weil längst üblich und spielt bei den meisten Figuren keine Theaterrolle mehr. Jeder funktionierende Text verträgt das, und ja, es gibt einige Streitfälle, wobei dann aber eher die konkrete Umsetzung als entscheidendes Kriterium gelten muss.
Die aktualisierende Textfassung von Florian Borchmeyer ist im doppelten Sinne „natürlich“ heutig und bekommt auf Franklin mit Seyda Kurts journalistisch-essayistischen Texteinschüben einen noch heutigeren Schliff.
Seyda Kurt und das Stück am NTM
- Seyda Kurt wurde 1992 in Köln geboren und engagierte sich früh in migrantischen Selbstorganisationen und Verbänden.
- In Köln und Bordeaux studierte sie Philosophie und Romanistik. Als Journalistin und Autorin arbeitet sie für unterschiedliche Medien. Für das Theaterportal „nachtkritik.de“ schrieb sie eine Kolumne über Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder.
- 2021 erschien ihr autobiografisches Sachbuch „Radikale Zärtlichkeit“ , das bürgerliche Liebesnormen aus einer „queerfeministischen, dekolonialen, anti-rassistischen und anti-kapitalistischen“ Perspektive thematisiert. Ebenfalls 2021 erschien „Widerstand im Traumaland. Was migrantische Kämpfe in Ost und West voneinander lernen können“.
- Weitere Vorstellungen am 18. und 29. März sowie am 1., 22. und 23. April im Alten Kino Franklin. Karten gibt es telefonisch unter 0621/16 80 150.
Alpha-Frau Stockmann hat aus einem ärmlichen norwegischen Küstenort durch wissenschaftliche Erkenntnis ein heilsames Seebad gemacht. Ihr Bruder hat als Stadtrat auch sein Scherflein beigetragen, Matthias Breitenbach hat ein kommunalpolitisches Auftreten, ist im großspurigen Tennisdress und mit goldener Pilotenbrille (Kostüme: Lili Wanner) eine grandiose Studie rotarisch-jovialer Männer-Vorort-Herrlichkeit. Hier werden Entscheidungen getroffen, man kennt sich.
Über den Dächern (Bühne: Bettina Pommer, Video: Karolina Serafin) der Stadt, gesellschaftlich ganz oben sozusagen, herrscht Wellness pur. An der Dachkante aber steht schon glänzend schwarzes Brackwasser. Noch ist die Stimmung gut.
Gerade hat man sich nett eingerichtet, da entwickelt sich Stockmanns Forscherinnendrang zur Gefahr für das Gemeinwohl: Das Heilwasser ist gesundheitsgefährdend verseucht. Das haben die genommenen Proben ergeben. Alles muss abgerissen, verändert werden... Nun steht der neue Wohlstand, getroffene Entscheidungen, persönliche Schicksale, gesellschaftliche und familiäre Bande auf dem Prüfstand.
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Stockmann, Ibsen hat ihm/ihr eine unsympathische Portion nietzianischen Größenwahn eingeschrieben, erwartet Dank, wo nur noch Ablehnung zu ernten ist. Moral versus Macht der Mehrheit heißt das ernste Spiel mit keinesfalls offenem Ausgang. Statt um ein Bad könnte es auch um eine BUGA oder eine Theatersanierung gehen. Publikum und der anwesender OB Kurz wissen das. Der Weg zur Meinung ist Katrin Plötners theatralischer Auftrag. Der naturalistische Reigen beginnt in der Familie: Mit Bruder Stadtrat sind die Fronten schnell klar, mit der kapitalismuspragmatischen Unternehmerschwiegermutter (gekonnt pointiert: Almut Henkel) dauert es etwas länger, am längsten freilich beim liebenden Gatten (stille, große Komik: Christoph Bornmüller).
Bei den Journalisten, also dort, wo der Wankelmut schwanken tut, wo Redakteure auf Referentenstellen in die Stadtverwaltung streben, Chefredakteure Verbands-Bande knüpfen und Verleger mit Anzeigenkunden gesellschaftliche Beziehungen pflegen, ist es nicht immer leicht, Haltung zu bewahren. Sarah Zastrau, Omar Shaker und Patrick Schnicke entwickeln das Ibsen bekannte Dilemma luzide und mit viel „Kir Royal“. Ob Unternehmer, Journalist oder Arbeitnehmer: Wir alle sind nicht besser - und so lässt die glänzende Maria Munkert als „große Stockfrau“ bei einer Gemeindeversammlung monologisch die (Moral)-Sau raus, versteigt sich übermenschlich und selbstherrlich zum radikalen Menschenhasser und aggressiven Besserwisser.
1a-Publikumsbeschimpfung
Die Tiraden stammen von Ibsen und Kurt, die „natürlich“ massiv ins Publikum gehen, wo er nun mal sitzt, der fleischfressende, autofahrende, kerosinverfliegende, kohleheizende Spießer mit all seinem geerbten Nazi-Geld... Das sitzt. Und ist wahr. Ein gelungener Abend ohne Hysterie, der in 90 Minuten keine Sekunde langweilig ist. Schauspiel im besten Sinne, nur dank Text, exzellent aufspielendem Ensemble, und klugem Konzept. Entsprechender Applaus.
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