Mannheim. Hunde im Zuschauerraum oder Besucher, die vor der Vorstellung in den Kulissen herumlaufen, Kostüme und Requisiten anfassen? Am Nationaltheater lange undenkbar – doch jetzt nicht mehr. In Kooperation mit dem Badischen Blinden- und Sehbehindertenverein (BBSV) bietet es zu verschiedenen Produktionen an ausgewählten Abenden Live-Audiodeskription, also akustische Beschreibungen des Geschehens per Kopfhörer, inklusive vorheriger Ertastung der Bühne und Kostüme an.
„Fantastisch“ findet Karlheinz Schneider, der Vorsitzende des Badischen Blinden- und Sehbehindertenvereins, das neue Angebot. Sein Verein setze sich schon lange dafür ein, Barrierefreiheit nicht nur im Blick auf bauliche Voraussetzungen zu ermöglichen. „Es geht uns auch um Teilhabe an der Kultur“, die lange kaum möglich gewesen sei. „Aber es ist toll, dass sich jetzt etwas am Nationaltheater tut“, freut er sich.
Bilder im Kopf sollen entstehen
Wobei er selbst kräftig mitgeholfen hat. Mit Elke Paul aus dem Verein arbeitete er mit bei der Vorbereitung der Texte und gab wichtige Hinweise, die Veranstaltungen so vorzubereiten, dass die Zielgruppe auch etwas davon hat. „Es geht ja darum, dass Bilder im Kopf entstehen“, beschreibt er die Herausforderung.
Das Nationaltheater ist dankbar für die fachkundige Unterstützung des Vereins. Vereinzelte, individuelle Angebote habe man der Zielgruppe immer mal wieder gemacht, so Alexandra Reich, Mitarbeiterin von Schauspielintendant Christian Holtzhauer. „Aber wir wollten das professioneller und auf breiterer Basis anbieten“, sagt Reich, und das sei natürlich nur mit Hilfe des Vereins sowie finanzieller Unterstützung des Sozialministeriums Baden-Württemberg gegangen.
Denn der Aufwand ist groß. Alle blinden oder sehbehinderten Besucher der Vorstellung bekommen vor dem Besuch eine Audiodatei nach Hause geschickt, auf der das Bühnenbild, Kostüme und Requisiten sowie die Inszenierung vorgestellt werden und auch die Schauspieler bereits zu hören sind. „So können sich die Leute an ihre Stimmen gewöhnen“, erklärt Reich.
Am Vorstellungsabend selbst „holen wir auch die Leute an der Haltestelle ab, wenn sie keine sehenden Begleitpersonen haben“, hebt Reich hervor. Und das Hundeverbot, das sonst im Nationaltheater gilt, erstreckt sich natürlich nicht auf die Assistenzhunde von Blinden – weshalb an dem Abend dieser „Woyzeck“-Vorstellung gleich zwei dieser hilfreichen Tiere dabei sind.
Und dann stehen gleich zwei Mitarbeiterinnen zur Betreuung der besonderen Gäste vor der Aufführung bereit, unterstützt noch von Kräften aus dem Vorstellungspersonal. Denn ehe sich der Vorhang hebt und dann all das, was auf der Bühne passiert, live per Kopfhörer erläutert wird, gibt es noch ein großes Einführungsprogramm. „Oh, toll“, hört man dann schon aus den Reihen, als das spezielle Programm dafür angekündigt wird.
Zunächst geht es darum, zu erklären, wo man sich befindet. Erklärt wird, was das Studio Werkhaus ist, warum es ganz schwarz gestrichene Decken und Wände hat, wie viel Platz der Zuschauerraum (99 Plätze in acht Reihen) bietet und was das Bühnenbild darstellt.
Kostüme mal anfassen
Noch kurz vor oder nach dem Aufenthalt in Maske und Garderobe kommt das Ensemble. „Ich bin 25 Jahre alt, 1,88 Meter groß, sehr athletisch gebaut“, stellt sich etwa Leonard Burkhardt vor. „Ich war einmal sehr, sehr gut gebaut, mittlerweile bin ich kräftig gebaut“, schließt sich Eddie Irle an – und es wird gelacht. Ob Dreitagebart, gelocktes Haar, Haarfarbe und die spätere Kostümierung – alles erklären die Schauspieler denen, die sie nachher während der Vorstellung hören, aber nicht sehen können. Und nebenbei verrät Ragna Pitoll außer Alter, Aussehen und Details ihres Kostüms noch: „Ich bin Oma geworden.“
Den indigoblauen Filzhut, den sie als Frau Hauptmann in dem Stück von Georg Büchner trägt, dürfen dann gleich alle anfassen. Er geht durch die Reihen, wird interessiert abgetastet. Auch beim weißen Schwanenmantel streichen viele Finger über den Stoff, ebenso bei weiteren Kostümen, auch bei dem Strasskleid der Marie (Verena Jost). „Ein Hauch von Nichts, ganz vorsichtig“, ermahnen die Theatermitarbeiterinnen – aber das wäre gar nicht nötig, denn in der Tat wird alles zwar aufmerksam und interessiert, doch höchst zurückhaltend mit den Händen erkundet. Das gilt ebenso für die Requisiten, die durch die Reihen gegeben werden, ein Rasiermesser etwa („Es ist nicht scharf“) oder ein Dubbeglas (aus Plastik, da Glas auf der Theaterbühne verboten ist).
Und dann kommt der große Moment, an dem die Besucher ihre Plätze verlassen dürfen, von Theatermitarbeitern an der Hand genommen werden und die Bühne erkunden. „Tunnel“ wird das genannt, was Bühnenbildner, Techniker und Beleuchter da geschaffen haben – 8,5 Meter lang, vier Meter breit, eine leicht ansteigende Rampe, von einem Rahmen mit Neonröhren eingefasst. Mit vorsichtigen Schritten, an der Hand oder von ihren Blindenhunden geführt, versuchen die Gäste, sich eine Vorstellung von dem zu machen, was den Rahmen für die Vorstellung bildet.
„Ich freue mich riesig“
„Super, toll“, freut sich darüber zum Beispiel Nicole Weißer, eine der Teilnehmerinnen: „Ich war noch nie im Theater“, doch dieses besondere Angebot mache es ihr nun möglich: „Es ist wirklich toll gemacht, ich freue mich riesig!“ Und mancher, der als Begleitperson eines Blinden oder Sehbehinderten mitgekommen ist, lobt das Angebot, weil es auch sehenden Zuschauern einen viel besseren Zugang zu der Inszenierung eröffne.
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