Mannheim. Leon Lorena Wyss will einfach mit Namen angeredet werden. Das sagt Wyss gleich zu Beginn. Wyss beschäftigt sich künstlerisch viel mit Geschlechterfragen, sicherlich auch, weil Wyss sich selbst als queere und nicht-binäre Person identifiziert. Im Gespräch erzählt Wyss von sich, deren Sicht auf die Welt, und darüber, inwiefern Wyss sich in Mannheim auch mit einem ihrer Vorgänger als Hausautor*in beschäftigen wird: Friedrich Schiller.
Leo, Sie wollen ja nicht mit Frau angeredet werden?
Leo Lorena Wyss: Ja, genau. Anstelle eines Pronomens oder einer geschlechtsspezifischen Anrede kann beispielsweise einfach der Name eingesetzt werden.
Kein Problem. Sie sind erst Mitte 20 und räumen Preise und Stipendien fast schon am laufenden Band ab. Nach Heidelberg und Retzhof nun Mannheim. Wie fühlt sich das für Sie an?
Wyss: Aufregend! Ich bin unfassbar glücklich, dass mein Schreiben Anklang findet und ich es mittlerweile als Beruf betrachten kann. Andererseits ist es gerade zu Beginn auch eine Herausforderung, sich in dem von Wettbewerb, Preisen und Juryentscheidungen geprägten Betrieb zurechtzufinden. Ich habe ein wenig gebraucht, um mich in der Theaterwelt zu orientieren und mich nicht einschüchtern zu lassen. Manche Gepflogenheiten und Abläufe wirken, gerade wenn das Theater nicht Teil der eigenen Sozialisierung war, doch auch exkludierend.
Leo Lorena Wyss
- Die Person: Leo Lorena Wyss ist die erste Person, die darauf besteht, weder Hausautor noch Hausautorin am Nationaltheater Mannheim zu sein, sondern Hausautor*in. Das hat mit Wyss Leben zu tun. Wyss identifiziert sich als queerer, nicht-binärer Mensch und beschäftigt sich in Theatertexten auch intensiv mit diesen Themen.
- Das Studium: 1997 in Basel geboren, studiert Wyss Sprachkunst in Wien (Uni für angewandte Kunst). Davor Studium Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und Madrid.
- Die Preise: Zuletzt Autor*innen-Preis Heidelberger Stückemarkt (für „Blaupause“), Retzhofer Dramapreis (für „Muttertier“). dms
Was ist das, was Sie ausschließt?
Wyss: Ich würde sagen, es sind bestimmte Codes. Eine Art Insider-Wissen, das man sich erst einmal aneignen muss. Es ist auch eine Art zu sprechen. Bestimmte Referenzen auf Personen, Stücke oder Häuser werden oft beiläufig gemacht, so dass ich anfangs das Gefühl hatte, ich könne erst mitreden, wenn ich all diese kenne. Einmal hat sich eine Person, mit der ich davor noch nie in irgendeiner Weise Kontakt hatte, bei einem Theaterevent vorgestellt mit: „Sie wissen ja, wer ich bin.“ Das fasst es vielleicht ganz gut zusammen?
Wer war das?Wyss: Das spielt keine Rolle.
Okay, das irritiert. Aus welchem Milieu kommen Sie denn, wenn Sie sagen, dass Theater nicht zur Sozialisierung gehört hat?
Wyss: Das kann ich nicht so einfach in Kürze beantworten – da spielt so vieles mit rein, und ich bin selbst noch am Rausfinden, welche biografischen Eckdaten da genau als Marker auf bestimmte Milieus hinweisen. Die Auseinandersetzung mit Klasse ist in jedem Falle eine, die, wie ich finde, leider noch immer häufig außen vor gelassen wird und daher bei vielen in der eigenen Reflexion für Verwirrung und Orientierungslosigkeit sorgt. In jedem Fall: nicht das klassische Akademiker*innen-Milieu.
Das klingt jetzt sicher hochgestochen, aber Sie befinden sich nun in der Nachfolge von Friedrich Schiller, Mannheims erstem Hausautor. Können Sie mit ihm was anfangen?
Wyss: Mich interessiert es in einer Auseinandersetzung mit Literaten wie Schiller, eben diese Nachfolge genauer zu befragen: An welches Erbe, an welchen Textkorpus knüpfe ich mit einer Hausautor*innenschaft im Jahr 2024 an? Wie gehe ich ganz generell als queere und nicht-binäre Person beim Schreiben mit einem vorrangig männlich geprägten Kanon um? Schiller und dessen Werk werden auf jeden Fall noch ganz konkret Teil der Hausautor*innenschaft werden, so viel kann ich schon verraten.
Ist diese Reibung zwischen Ihrer Persönlichkeit und dem, was Sie an Vergangenheit und Gegenwart vorfinden, eigentlich die wichtigste Triebfeder Ihres Schreibens?
Wyss: Das könnte man so sagen, ja. Mich interessiert eben dieses Spannungsfeld von aktueller gesellschaftspolitischer Einbettung und historischer Kontinuität von Narrativen und Themen. Für mein neues Stück bedeutet das spezifisch eine Auseinandersetzung mit weiblich gelesenen Körpern in der Medizin. Wie setzen sich heutige Ungleichheiten in der medizinischen Behandlung fort? Welche Körper gelten als Norm, welche nicht? Ganz konkret habe ich mich dabei zum Beispiel mit der Frage beschäftigt, inwiefern heutige Fehldiagnostiken oder das Abtun als psychosomatische Reaktion von Schmerzen bei weiblich gelesenen Personen mit dem gewaltvollen Narrativ der sogenannten Hysterie in Verbindung stehen.
Was meinen Sie mit gewaltvollem Narrativ der sogenannten Hysterie?
Wyss: Die Geschichte der westlichen Medizin ist seit der griechischen Antike von männlicher Dominanz und der Überlegenheit des männlichen Körpers gekennzeichnet. „Die Frau“, wie es so oft heißt in der biologischen Abhandlung von Körpern, war lang als fehlerhafter Körper, als merkwürdig und unbändig markiert. Die Leiden von Frauen wurden ausschließlich auf Fortpflanzungsorgane reduziert, jede Krankheit mit der Gebärmutter in Verbindung gebracht.
Eben die Hystéra …
Wyss: … genau, aus dem Altgriechischen. Der lang tradierte Begriff der Hysterie ist gewissermaßen der Inbegriff misogyner Diagnostik. Die Hysterie wurde damals bei Frauen mit einem Zustand von Dissoziation und gewissen neurologischen Symptomen in Verbindung gebracht. Als Erklärung diente die Vorstellung, dass die Gebärmutter bei Inaktivität, das heißt, wenn eine Frau scheinbar nicht genügend Kinder oder Geschlechtsverkehr hatte, anfange, durch den Körper zu wandern und dadurch Leiden hervorrufe. Die Behandlungsmethoden waren dementsprechend furchtbar und gewaltvoll.
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Wie sind Sie auf das Thema gestoßen, warum ist es das, woraus Sie Theater machen möchten?
Wyss: Ich bin durch eigene persönliche Erfahrung schon seit längerem mit dem Thema Schmerz und Krankheit konfrontiert. Lange Zeit fehlte mir die Kraft, daraus einen Theatertext zu machen, irgendwann aber habe ich begonnen, erste Fragmente und Notizen zu sammeln und mich auch auf inhaltlicher Ebene damit auseinanderzusetzen. Hierfür habe ich sehr viele Texte gelesen zur eben angedeuteten Medizingeschichte und den damit verbundenen, bis heute andauernden Ungleichheiten im medizinischen Gesundheitssystem. Auch habe ich mich viel mit dem Umgang mit Krankheit in einer neoliberalen Gesellschaft auseinandergesetzt.
Was fragen Sie sich dabei?
Wyss: Wie werden Körper behandelt, die nicht mehr leistungsfähig sind? Wer hat Zugang zu Heilung und Therapie? Warum sind so viele Leistungen noch immer unterteilt in privat und Kasse? Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, umso dringlicher wurde für mich das Anliegen, Erfahrungen wie jene der Endometriose (Gebärmutterschleimhaut, d. Red) sowie die Auseinandersetzung mit psychischer Erkrankung auf der Bühne zu verhandeln.
Zurück zu Schiller. Seine Themen sind immer groß und betreffen die Menschheit im Kern oder die Politik. Freiheit, Menschlichkeit, Wahrheit. In welcher Beziehung sehen Sie Ihre eigenen, auch persönlichen Themen zum großen Ganzen des Mensch-Seins?
Wyss: Ich denke, dass diese Unterscheidung zwischen „groß“ und „persönlich“ gar nicht so leicht zu machen ist. Wer gibt denn vor, dass ein Thema „groß“ ist, während das andere als „persönlich“ eingestuft wird? Im Grunde sind die Erfahrung von Schmerz und der Versuch einer Versprachlichung dessen ja eigentlich sehr universelle Themen. Es ist nur immer eine Frage der Perspektive: Aus wessen Perspektive wird von dieser Erfahrung erzählt? Wessen Perspektive gilt als universell, welche hingegen tritt an den Rand des Erzählbaren? Themen wie Trauer, Schmerz oder Sexualität sind, denke ich, keine neuen. Es ist vielmehr der Blickwinkel, aus dem heraus erzählt wird, der vielleicht ein bisher ungewohnter, nur wenig repräsentierter ist. Einer, der etwa von lesbischer Sexualität und dem Umgang von Verlust in queeren Beziehungen erzählt.
Es fällt auf, dass Sie viel von Erzählen sprechen. Schreiben Sie keine postdramatischen Theatertexte?
Wyss: Ich denke, dass sich bestimmt einige postdramatische Elemente in meinen Texten wiederfinden. Die Auseinandersetzung mit Autor*innenschaft, der Bezug des eigenen Autor*innenkörpers zum Text zum Beispiel nimmt eine wichtige Rolle in meinem Schreiben ein. Generell ist die Suche nach der Form, das Spielen mit verschiedenen Sprechweisen, Zitaten und Erzählebenen, ein sehr wichtiger Teil meiner Arbeit. Jeder Text, den ich schreibe, ist immer auch eine Art Referenzsystem, enthält Hinweise auf andere Texte, Bilder oder auch Musik. Ich schreibe, anders als das der männlich geprägte Genie-Kult proklamiert, nie alleine. Ich sehe meine Arbeit immer im Kontext anderer Schreibender sowie eines generell vorherrschenden gesellschaftspolitischen Diskurses.
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