Mannheim. Herr von Gagern, Kulturbürgermeister Thorsten Riehle lobt im Vorwort des neuen Programms ausdrücklich Innovation und Grenzerweiterung der Musikalischen Akademie (MAM). Was wäre da als Beispiel zu nennen?
Fritjof von Gagern: Mit ihrem zarten Alter von 246 Jahren kann die MAM den Wandel der Zeiten nur überdauern, wenn wir uns immer neu erfinden, unsere Relevanz stets kritisch hinterfragen. Dabei geht es weniger um strukturelle Fragen als vielmehr um Inhalte. So bleiben wir in der neuen Saison den acht Doppelkonzerten natürlich treu, stellen dabei aber ein für den Verein wie für uns Musikerinnen und Musiker ganz zentrales Thema in den Vordergrund: Musik und Demokratie.
Wie - mit einem Textbeitrag von Norbert Lammert?
Von Gagern: Tatsächlich empfinde ich den Essay als überaus bereichernd. Aber Demokratie ist für die Akademie in vielerlei Hinsicht von Bedeutung: Wir Vorstände sind von den Orchesterkolleginnen und -kollegen gewählt, Programme entstehen in einem demokratischen Prozess. GMD Roberto Rizzi Brignoli fügt sich als echter Teamplayer in diesen Prozess ein. All das gehört zur DNA der Akademie, wir drücken der Saison also keinen Stempel auf, sondern möchten Gedanken geben, die das Hören unserer Musik kontextualisieren.
Dabei spricht man bei Orchestern immer von den letzten Diktaturen. Ein Mensch bestimmt, wie 100 andere spielen sollen …
Von Gagern: … das sind dann aber eher die letzten Dinosaurier. Nein, im Ernst: Wir haben eine große Bandbreite an Gastdirigentinnen und -dirigenten. Die allermeisten begegnen uns auf Augenhöhe, hören zu, wenn es Ideen aus dem Orchester gibt. Und dem Klang tut diese neue Freiheit unbedingt gut.
Von Gagern und die Konzerttermine
Fritjof von Gagern, 1986 geboren, ist 1. koordinierter Solo-Cellist des Nationaltheaterorchesters und seit rund vier Jahren Vorsitzender der Musikalischen Akademie des Nationaltheaters.
1. 14./15.10.: Ives (Three Places in New England). Mahler (5. Sinfonie). Ingo Metzmacher (Dirigent).
2. 18./19.11.: Tschaikowski: Violinkonzert D-Dur op. 35. Schostakowitsch: 5. Sinfonie (Sarah Christian (Vio), Roberto Rizzi Brignoli.
3. 16./17.12.: Beethoven (9. Sinfonie). E. Kruger, J. Faylenbogen, J. Stoughton, S. Ha (Gesang), NTM-Chor, Rizzi Brignoli.
4. 20./21.01.2025: Schumann (Genoveva-Ouvertüre), Martin (Konzert für 7 Blasinstrumente, Pauken, Schlagzeug und Streichorchester), Brahms (2. Sinfonie). Pablo González.
5. 17./18.2.25: Bartók (Viola-Konzert). Wagner (Vorspiel, Liebestod aus „Tristan“), Strauss (Tod und Verklärung). Tabea Zimmermann (Viola), Rizzi Brignoli.
6. 17./18.3.25: Grieg (Klavierkonzert), Beethoven (6. Sinfonie). Susana Bartal (P.), Marc Minkowski.
7. 26./27.5.25: Brahms (Alt-Rhapsodie), Liszt (Faust-Sinfonie). Gerhild Romberger (Mezzo), Christopher Diffey (Tenor), NTM-Herrenchor, Rizzi Brignoli.
8. 23./24.6.25: Gershwin (An American in Paris), Willeitner (Urauffführung), Price (Adoration), Rachmaninow (Sinfonische Tänze). Vision String Quartet, Anna Rakitina.
Info/Karten: 0621/260 44.
Wo sehen Sie im Programm Punkte, die sich mit der demokratischen Idee verbinden lassen, ergo: wo Sie guten Gewissens sagen können: Das ist rund und nicht beliebig?
Von Gagern: Drei Beispiele: Frank Martin, Konzert für 7 Instrumente. Da spielen unsere hauseigenen Solisten, die Struktur knüpft an barocke Überlegungen an, bei denen die Solisten mehr Erste unter Gleichen waren. Ziemlich revolutionär für die Nachkriegszeit, finden Sie nicht? Einen anderen, biografischeren Ansatz wählen wir im 8. Akademiekonzert mit Werken von Florence Price, Gershwin und der Uraufführung von Florian Willeitner, der erstmals für sein eigenes Quartett schreibt. Das ist alles ganz große Musik und macht richtig Freude beim Zuhören - völlig unverständlich, wie die Musikgeschichte eine Price vergessen konnte! Und Beethovens 9. steht für sich.
Wie sind Sie auf Florence Price gestoßen? Sie haben bestimmt verzweifelt nach einer unbekannten Frau aus dem 20. Jahrhundert gesucht, stimmt’s?
Von Gagern: Eben nicht! Von verzweifelt gefundenen Quotenfrauen halte ich gar nichts… Die Musik hat Tiefgang und ist auch handwerklich absolut top! Ein Beiratsmitglied ist bei einer Aushilfe über sie gestolpert und war sich sicher, Price gehört genauso zu den Großen des 20. Jahrhunderts wie Schostakowitsch oder Schönberg. Geben Sie ihr mal eine Chance …
Also bei mir bekommt sie die Chance - zumal ich „Adoration“, eigentlich ja für Orgel, in der Version für Geige und Klavier kenne. Ein sehr schönes Stück - aber ist Ihnen da nicht eine Winzigkeit zu viel Kitsch drin? Das ist von 1951, klingt aber, als stamme es von vor Prices Geburt 1887…
Von Gagern: Kitsch? Ich höre einen zärtlichen Hauch melancholischer Süße …
Außerdem: Die meisten Aufführungen unbekannter Komponisten und auch die Uraufführungen der Musikalischen Akademie bleiben öfter mal Eintagsfliegen. Was müsste da eigentlich geschehen?
Von Gagern: Da widerspreche ich! Die weltweiten Wiederholungen unserer Auftragswerke sind doch total bemerkenswert! Jost, Fujikura oder Firsova - sie alle wurden von anderen Orchestern wieder aufgeführt, die „Windsbraut“ erst vor zwei Wochen mit Alex Soddy in Bern. Klar bleibt ein Auftragswerk immer eine Überraschung und auch Risiko, eine Co-Commission wie in dieser Saison kann dieses abfedern und sorgt auch für schnellere Verbreitung. Im Falle von Florian Willeitner bin ich sehr optimistisch, dass das Vision String Quartet damit noch oft auf Tour gehen wird, erste Anfragen hat es schon gegeben. Das Werk groovt und ist noch nicht einmal fertig komponiert!
Wie, Sie kennen das Werk, bevor es fertig ist?
Von Gagern: (lacht) Hellsehen kann ich natürlich nicht. Aber das Vision String Quartet kenne ich seit Studientagen und bin damit viel näher dran am Kompositionsprozess als bei anderen Auftragswerken. Zudem gab es ein paar technische Absprachen, die ich aber noch nicht verraten will …
Da wittert der Journalist gleich einen Fallstrick: Wie finden Sie Komponisten?
Von Gagern: Die Beiratsmitglieder präsentieren ihre Vorschläge, wir hören in Beispielwerke, dann wird abgestimmt - genau wie bei Gastdirigentinnen und -dirigenten, Solistinnen und Solisten und den Werken. Am Ende muss eine runde, spannende und hochkarätige Saison herauskommen. Und auf ’24/’25 bin ich - so viel sei verraten - schon ein bisschen stolz! Ihren Fallstrick vielleicht zerschneidend sei hinzugefügt, dass Willeitner mein erster Vorschlag ist, der den Zuschlag erhielt …
Sind Sie eigentlich mit der Auslastung von rund 75 Prozent der zurückliegenden Saison zufrieden?
Von Gagern: Unser stetiges Wachstum ist toll, zufrieden bin ich bei 100 Prozent.
Wie ist der Mozartsaal bestuhlt, was macht das in absoluten Zahlen auf die 16 Konzerte?
Von Gagern: knapp 2000 Plätze, also circa 25 000 verkaufte Karten. Die Abos fassen einiges zusammen.
Sie brauchen neues, junges Publikum. Mit welchem Repertoire gelingt das am ehesten?
Von Gagern: Junge Ohren sind für alles offen und begeisterungsfähig. Ich glaube nicht daran, dass bestimmte Werke oder Stile da besonders helfen. In dem „Wie“ liegt der Unterschied!
Ich mag zwar zeitgenössische Musik sehr gern, freue mich aber trotzdem am meisten über Mahlers Fünfte. Und Sie? Und was, glauben Sie, wird beim Publikum am besten punkten?
Von Gagern: Mahler 5 mit Ingo wird ein Fest, auch auf Tabea Zimmermann und die Kombination Bartók-Wagner-Strauss freue ich mich sehr. Was in der Publikumsgunst ganz oben steht? Wir schließen dazu immer Wetten im Team ab - und ich liege zu Saisonende zumeist grandios daneben. Von daher: Lassen wir uns überraschen!
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