Kultur

Winter in Schwetzingen startet mit 20 Jahren Zigarettenpause

Reinhard Keisers wieder ausgegrabener „Ulysses“ nach Homers "Odyssee" kann zur Eröffnung des Barock-Festes etwas begeistern. Die Frage, ob das Werk den Dornröschenschlaf beendet hat, kann aber nicht beantwortet werden

Von 
Hans-Günter Fischer
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Braucht in der Bar Ithaka nach seiner Rückkehr erst mal einen Drink: Odysseus (Henryk Böhm), dem die lange Zigarettenpause nicht gutgetan hat. © Susanne Reichardt

Schwetzingen. Eine Leuchtschrift an der Bühnenrückwand nennt den Namen des Lokals: „Bar Ithaka“. Ulysses ist hier schon einmal gewesen, doch wann war das? Es muss ziemlich lange her sein. Die Personen, die am großen, umlaufenden Tresen sitzen, lassen an ein Bild von Edward Hopper denken: „Nighthawks“. Recht verloren und verlassen wirken sie.

Ulysses hatte eine kleine Auszeit eingelegt, er ist schließlich der listenreiche Odysseus aus dem berühmten alten Epos von Homer. Zehn Jahre Krieg, zehn Jahre Irrfahrten über die Meere. Aber die „Ulysses“-Oper Reinhard Keisers hat eine vergleichbar abenteuerliche und zudem weit längere Geschichte, auch wenn sie seit ihrer Uraufführung 1722 in einen Dornröschenschlaf gefallen war. Jetzt ist sie nach exakt 300 Jahren wieder ausgegraben und mit großem Aufwand restauriert und komplettiert worden. Als Kernstück des Barock-Festes „Winter in Schwetzingen“.

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Kann diese Aufführung zu einer dauerhaften Renaissance von Keisers Oper beitragen? Das ist nicht leicht zu sagen, denn die Dinge liegen ziemlich kompliziert. Vor allem, weil hier, wie schon angedeutet, ein Fragment vorliegt: Die meisten Arien der Penelope, Ulysses’ allzeit treuer (?) Ehefrau, sind nicht mehr aufzufinden. Aber Clemens Flick, der Dirigent der neuen Produktion im Rokokotheater, hat eine enorme und sehr stilkundige Fleißarbeit verrichtet und zu diesem Zweck das sogenannte Parodie-Verfahren angewandt. Es stellt Vorhandenes in einen neuen Kontext.

Flick verwendet etwa, leicht verändert, Arien aus der „Orpheus“-Oper Reinhard Keisers - er bescheinigt ihr „sensationelle Originalität“ - und fügt sie so organisch ein, dass praktisch nie ein Bruch im musikalischen Gefüge spürbar wird. An ein, zwei kleinen Stellen parodiert der Dirigent freilich auch „richtig“: Dann vermeint man, Richard-Strauss-Klänge zu hören. Soll das faulen Zauber andeuten?

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Mit Glitzerkleid und Dekolleté

In jedem Fall ist eine echte Zauberin an Bord, denn Circe ist Ulysses nachgereist in seinen Heimathafen Ithaka. Obwohl sie „eigentlich“ nur eine Liebelei während der großen Irrfahrt war. Aber sie kann und will nicht loslassen. Die Sopranistin Dora Pavlíková gibt in Schwetzingen theaterraumgreifend die Frau mit Glitzerkleid und Dekolleté, die manchmal, wenn sie eine ihrer Rachearien anstimmt, eine frühe Königin der Nacht ist. Doch vor allem Opfer ihrer eigenen Gefühle wird.

Nicola Raab, die kluge Regisseurin, zieht mit Madeleine Boyd - sie ist für Bühne und Kostüme zuständig - zum scheinbaren Kontrast Penelope das weiße Kleid der Tugend an. Und Jutta Böhnert singt auch ausgesprochen anrührend vom „Süßen Ursprung meiner Ruh’“ und sucht die Waldes-Einsamkeit. Aber im Grunde ist sie Circes Schwester. Raab erzählt mit psychologischer Finesse eine durchaus heutige Geschichte: Was passiert, wenn sich der Mann, der nur kurz Zigaretten holen wollte, bis auf Weiteres verabschiedet? Was macht das mit einer Beziehung?

Ein Dichter, der die alte, neue Story nacherzählt

„So entstehen Mythen“, sagt dazu der Mann am Bühnenrand. Auch er ist für die Aufführung im Rokokotheater neu dazugekommen: ein Erzähler, dem die Heidelberger Opern-Co-Chefin Ulrike Schumann seine Texte aufgeschrieben hat. Klaus Brantzen spielt den Mann mit abgewetzter Weste. Er scheint nicht Homer zu sein. Aber ein Dichter, der die alte, neue Story (sehr kursorisch) nacherzählt und mit halb scharfer Zunge kommentiert: „Die Muse hat gepennt!“ Dieser Homer spinnt manchmal ja auch fast groteskes Seemannsgarn. Und Brantzen singt, mit dem Akkordeon in der Hand, gelegentlich ein Seemannslied dazu.

Ansonsten wird sehr ordentlich gesungen, die Ensemble-Leistung darf hervorgehoben werden. Insbesondere die junge, gletscherwasserklare Stimme von Theresa Immerz sticht nochmals heraus - sie gibt Cephalia, die Vertraute der Penelope. Auch das Orchester unter Clemens Flick, zu Anfang noch kurz angebunden und Affekt-gesteuert, findet sich in Keisers im „Ulysses“ häufig lyrische, bisweilen fast bukolische Musiksprache gut ein. Wovon etwa ein wunderschönes Flöten-Echo Zeugnis ablegt.

Und Ulysses selbst? Der Held, von Henryk Böhm sehr kultiviert gesungen, wirkt ein bisschen ausgelaugt. Die lange Zigarettenpause hat nicht allzu gut getan. Zurück in seiner Heimat-Bar, muss er sich erst mal einen großen Drink mixen. Gattin Penelope indessen reicht womöglich bald die Scheidung ein.

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