Kulturgeschichte

Mythen aus Frauensicht

Immer mehr Antikes wird umgeschrieben

Von 
Sebastian Fischer
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Analysiert Geschlechterrollen: Katharina Wesselmann. © Raphaël Bouvier/dpa

Es sind meist die Mythen der großen Helden, die von der Antike bis heute erzählt werden: der Zorn des Achilles, die Irrfahrten des Odysseus, die Abenteuer des Aeneas, der Wagemut des Theseus oder die Grausamkeiten des Agamemnon. Für Frauen sind häufig nur Nebenrollen vorgesehen: Penelope wartet auf Ithaka sehnsüchtig und webend auf die Rückkehr ihres Odysseus, in Mykene heckt Klytämnestra ihren Mordplan gegen Ehemann Agamemnon aus.

Doch jüngst ist ein Trend zu beobachten, bei dem Autorinnen weiblichen Figuren mehr Platz einräumen und deren Storys ins Zentrum rücken. Im Zuge einer generellen Mythologie-Renaissance bekommen zuletzt die jahrtausendealten Sagen ein vielleicht ungewohntes, weil weiblicheres Gesicht: Homers „Odyssee“ wird von Zauberin Circe erzählt („Ich bin Circe“ von Madeline Miller), die Minotaurus-Sage von der kretischen Prinzessin („Ariadne“ von Jennifer Saint) oder der Trojanische Krieg etwa von Sklavin Briseis („Die Stimme der Frauen“ von Pat Barker).

Das Phänomen, weibliche Figuren zur Protagonistin zu machen, ist allerdings bei Weitem nicht neu. Im deutschen Sprachraum etwa hat Christa Wolf vor Jahrzehnten die Geschichten um die trojanische Seherin Kassandra oder die von Jason betrogene Medea feministisch betrachtet. Die Kanadierin Margaret Atwood wiederum hat in ihrer „Penelopiade“ der Frau, die meist wohl nur als Gattin des Odysseus im Gedächtnis ist, Eigenständigkeit herausgearbeitet.

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„Dass es nun wirklich Frauen in dieser Dichte sind, die die Mythen erzählen, das ist wahrscheinlich in der Weltgeschichte noch nicht da gewesen“, sagt Altphilologin Katharina Wesselmann über den aktuellen Trend. Die Kieler Professorin hat zuletzt in ihrer Monografie „Die abgetrennte Zunge“ antike Texte mit Blick auf Männer- und Frauenbilder analysiert. Aktuell gebe es eine ganze Reihe sehr erfolgreicher Autorinnen aus dem angloamerikanischen Raum, sagt sie. Dem möglichen Vorwurf, die Sagen würden verfälscht, tritt Wesselmann entgegen: „Antik ist echt, und neu ist erfunden – das ist natürlich Quatsch“, sagt sie. Der Mythos gibt seit jeher lediglich die Eckdaten vor. Und so entstehen Geschichten, die heute noch so aktuell erzählt werden können wie vor Jahrtausenden. 

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