Ludwigshafen. Dass alles vergänglich ist, dürfte hinreichend bekannt sein. Denken wir jedoch daran, befällt uns nicht selten Melancholie, und wir verspüren jenen Hauch von Einsamkeit, der uns ein ganzes Leben lang begleitet. Arthur Schnitzler, Arzt und Schriftsteller, Zeitgenosse von Sigmund Freud in Wien, hat das alles genau protokolliert. Seine 1911 uraufgeführte Tragikomödie „Das weite Land“, mit der das Wiener Akademietheater an zwei Tagen im Ludwigshafener Pfalzbau gastierte, nimmt vorweg, was der Erste Weltkrieg endgültig besorgen wird: den gesellschaftlichen Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Barbara Freys Inszenierung beginnt mit einem Todesfall. Ein junger Pianist, leidenschaftlich in die Frau des Fabrikanten Hofreiter verliebt, hat sich erschossen. Genias Tugendhaftigkeit trieb ihn in den Tod. Treue als Motiv. Ihr Mann wird das später heftig kritisieren.
Medizinisch geschulter Realismus
Vom Friedhof kommend, treffen die Trauernden ein. Dazu ertönt aus dem Off eine Stimme. Sie erklärt den biologischen Verwesungsprozess von Leichen. Ein Regieeinfall Barbara Freys. Schließlich war Schnitzler kein illusionärer Träumer, obwohl ihn die Frage, wie sich Sehnsucht nach Zärtlichkeit und das Verlangen nach persönlicher Freiheit vereinbaren lässt, brennend interessierte.
Ironische Skepsis
- Arthur Schnitzler, 1862 in Wien geboren und dort 1931 gestorben, studierte Medizin und arbeitete bis 1893 als Assistenzarzt an Wiener Krankenhäusern. Später eröffnete er eine Privatpraxis, übte den ungeliebten Beruf aber kaum aus.
- Seine literarischen Themen entnahm er der sozialen und politischen Realität im monarchistischen Österreich des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Psychologisch genau und mit skeptischer Ironie zeichnete er ein Bild der Wiener Gesellschaft des Fin de Siècle, wie sie langsam an ihren inneren Widersprüchen zerbricht.
- Schauspiele wie „Der einsame Weg“, „Das weite Land“ oder „Professor Bernardi“ sind Dokumente für die Zersetzung der traditionellen Werte und den Zerfall der bürgerlich-liberalen Ordnung vor dem Ersten Weltkrieg
- In seinen Erzählungen verwendet er erstmals in der deutschen Literatur den inneren Monolog („Leutnant Gustl“, „Fräulein Else“).
Sein medizinisch geschulter Realismus kannte allerdings auch substanzielle Freiräume, denn gelegentlich dürfen die von ihm erfundenen Figuren glauben, dass sie vor dem Verfall ebenso geschützt seien, wie vor dem ewigen Krieg der Geschlechter. Aber das ist nicht so. Allein Hofreiters Seitensprünge und das angeblich verzeihende Lächeln Genias sprechen dagegen. Und als er seine Frau ermuntert, doch das Leben so zu genießen wie er selbst, sie sich mehr mütterlich als erotisch dem jungen, zart besaiteten Fähnrich Otto (Felix Kammerer) zuwendet, wird Hofreiter ihn im Duell erschießen.
Textfassung hart, schroff und kalt
Schnitzlers moderaten Salon-Ton hat Barbara Frey radikal gestrichen. Was vom Text übrig bleibt, wirkt oft hart, schroff und kalt. Dazu passt Martin Zehetgrubers düsteres Bühnenbild: ein dunkler transparenter Vorhang als Hintergrund, drei lederne Clubsessel auf der Vorderbühne. In ihnen sitzen abwechselnd jene, die Schicksal spielen, von Menschen herbeigeführt und entsprechend ausweglos. Schließlich sterben in dem Stück nicht nur zwei junge verliebte Männer durch Pistolenkugeln, es führt auch in jenes fremde Terrain, das Seele heißt und stets tödlich bedroht ist von Trauer, Liebesverlust und Verzweiflung.
„Ordnung ist etwas Künstliches. Das Natürliche ist das Chaos“, behauptet Schnitzler. Die Folgen sind allerdings bei Barbara Frey, abgesehen von wenigen Ausnahmen, extrem gedämpft. Fast alle Figuren beschäftigen sich mit sich selbst und verraten so ungeschützt ihre Einsamkeit. Zumal dann, wenn sie als Individuen dort zu gnadenlosen Einsichten gezwungen werden, wo ihre Mitmenschen sich noch etwas vormachen.
Kampf gegen den Alterungsprozess
So vergeht die Zeit und mit ihr unaufhaltsam der Prozess des Alterns. Gegen ihn kämpft der macht- und lebensgierige Glühbirnenfabrikant Friedrich Hofreiter (Michael Maertens). Er taumelt von Affäre zu Affäre, immer vergeblich auf der Suche nach einem gefestigten existenziellen Standort. Wie sehr sich Leben generell zwischen Liebe und Tod vollzieht, ist Hofreiter bewusst, doch dem Ich-Besessenen gelingt es nicht, daraus für sich, eine verbindliche Position abzuleiten.
Katharina Lorenz als Genia ist die große Dulderin. An der Oberfläche wirkt die geniale Verdrängerin gefasst, obwohl sie um die Untreue ihres Mannes weiß. Aber offenbar fehlt ihr der Mut und natürlich auch die gesellschaftliche Unterstützung gegen dessen erotische Exzentrik nachdrücklich zu opponieren. Manchmal hat man den Eindruck, als würde sie ihren Schmerz genießen, sich von ihm bestätigen lassen, dass sie existiert.
Emotionale Verstrickungen
Eine Selbsttäuschung. Mit der sie freilich nicht allein ist. Beinahe alle Personen der Aufführung reden über ihre emotionalen Verstrickungen, über das, was ist und das, was sein könnte. Eine andere Welt scheint für sie kaum zu existieren. Ausnahmen wie Dr. Mauer (Itay Tiran), aufrichtig bis zur Selbstaufgabe, unglücklich in Erna (Nina Siewert) verliebt oder die in ihrer Rolle als Schauspielerin souverän eindrucksvolle Bibiana Beglau sind selten. Dorothee Hartinger ist Frau Wahl, die selbstgefällig sich in alles einmischen will. Über Affären wird offen gesprochen, weniger über die unvermeidbar sterbliche Liebe.
Meistens ist sie an zu hohen Erwartungen oder der eigenen Kompromisslosigkeit gescheitert. Dann gilt es vielleicht gemeinsam aufzuarbeiten, was die Vergangenheit an schmerzenden Wunden hinterlassen hat, wie bei dem Ehepaar Natter (Sabine Haupt und Branko Samarovski).
Absurd sinnloses Handeln
Im Schlussbild, vor dem riesigen Kopf einer Tunnelbohrmaschine, wenn alles vorbei ist, die hier versammelten Menschen ihre Gefühle neu sortieren müssen, alle tröstlichen Erklärungen für ihr absurd sinnloses Handeln aufgebraucht sind, gerät man unversehens ins Zentrum einer tieferen Erstarrung, dem Wahnsinn nicht unähnlich.
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