Mannheim. Müssen wir uns jetzt etwa daran gewöhnen, dass die Oper des Nationaltheater vor allenfalls halb gefülltem Saal spielt? Wir können und wir sollten es nicht, müssen aber konstatieren: Es scheint unabänderlich. Es ist frustrierend. Schon der Megaabend mit den „Hugenotten“ im Pfalzbau: schwächelte. Die Abende in der Schildkrötfabrik: am Rande des Desaströsen. Und nun der Musensaal mitten in Mannheim: halb leer.
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Dabei stehen die Zeichen für diesen Abend auf Ansturm, rauschenden Erfolg, auf Triumph. Eigentlich: Puccini wird gegeben. Zudem der selten gespielte und mit gut einer Stunde bestens verdauliche Zweiakter „Le villi“. Die schiere Nummernoper wird konzertant gegeben, was besonders konservative Opernfans hinter dem heimischen Ofen hervorlockt. Großes Orchester. Chor. Und mit Evez Abdulla, Irakli Kakhidze und Astrid Kessler sind drei der großartigsten NTM-Sänger besetzt, die auf jeder Weltbühne zwischen Tokio, Mailand und New York locker bestehen könnten. Hallo, Mannheimer und Mannheimerinnen (inklusive Gemeinderäte, -rätinnen und Bürgermeister und -meisterin sowie -anwärterinnen und -anwärter), die ihr doch das Theater und Opernhaus am Goetheplatz mit seinen knapp 1200 Plätzen genau so wieder herstellen wolltet – wo seid ihr an diesem tollen Abend mit großen, mit den allergrößten Emotionen, die Oper überhaupt bieten kann?
Verführung durch eine Sirene
Okay, es ist Pfingsten und Stadtfest, außerdem ist Kaiserwetter und spielt nebenan bald Jimmy Kelly & The Streetorchestra. Das ist in Wahrheit der Kulturclash, den Mannheim erlebt und zunehmend erleben wird. Was kann dagegen ein Stück Musiktheater von 1884 ausrichten?
Viel, kann man sagen, wenn man da war. „Le villi“ ist zwar keine richtige Oper. Eher eine erzählte Handlung mit einigen Begegnungen der Protagonisten, eine sinfonische Kantate. Aber das ist so effektvoll und emotional mitreißend, dass das Kopfkino sich wie von selbst anschaltet. Das liegt freilich an Puccinis Musik. Und es war auch eine gute Entscheidung, die Regieanweisungen in die Übertitelung zu nehmen, schließlich passiert hier das Meiste nicht auf der Bühne, sondern im Kopf.
Die Story der verratenen Anna, deren Verlobter Roberto sich im fernen Mainz von einer „Sirene“ (Kurtisane) verführen lässt, worauf sie vor Kummer stirbt, wird auch so plastisch erzählt. Orchester und Chor unter Janis Liepins spielen mit großem klanglichem Relief. Das mit einigen chromatischen Farben gespickte Preludio führt den Abend bestens ein, der anschließende Chor (Mairi Harris Grewar) bläst einem die Gehörgänge durch. Kräftig und heftig klingt das „Eviva“, das in den Sopranen schnell aufs hohe a steigt. Entscheidend für den Abend sind aber die Soli: Man nehme das Duett „Non esser, Anna mia“ von Kakhidze und Kessler, oder das Terzett der beiden mit Abdulla vor allem ab Kesslers „Angiol di Dio“ auf dem hohen b – es ist Oper, die nur Kaltherzige kalt lässt, immer nah am Kitsch, aber großartige italienische Emotion. Und die drei Stimmen unterscheiden sich so schön. Abdulla mit diesem dunklen, fast etwas eingesperrt wirkenden Timbre, Kakhidze mit offen strahlendem Metall und scheinbarer Grenzenlosigkeit und Kessler, die perfekt phrasiert, im Piano toll abdunkelt und insgesamt zum Niederknien singt. Wahnsinn!
Der Saal tobt, das heißt: diejenigen, die da sind. Politisch sind ja Mehrheiten immer wichtig. In der Kultur sollte das nicht um sich greifen. Denn sonst investieren wir bald nur noch ins Stadtfest und die Kellys.
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