Heidelberg. Klimakrise, Corona, Krieg in Europa: Nie waren in den letzten Jahren mehr Menschen auf der Straße, um politisch für oder gegen etwas zu demonstrieren, nie wurde in der jüngsten Vergangenheit mehr und konträrer über Widerstand in unserer Gesellschaft diskutiert. Für „Remmidemmi. Das Widerstandsfestival“ hat das Theater und Orchester Heidelberg Stückaufträge vergeben, in denen zehn Autorinnen und Autoren danach fragen, was Widerstand ist und wo er geleistet werden muss. Über Zweck, Entstehung und Ablauf des Festivals sprachen wir mit Heidelbergs Intendant Holger Schultze.
Herr Schultze, nach Stückemarkt, Adelante, Schlossfestspielen, Winter in Schwetzingen nun noch ein Heidelberger Theaterfestival? Leiden Sie an Festivalitis?
Holger Schultze: Bekanntlich ja, aber dazu später mehr. Der Gedanke zu Remmidemmi entstand in der Corona-Zeit, weil wir uns durch die Aussetzung des Normalbetriebs sorgten, dass danach die Autoren nicht mehr vorkommen. Und da wir es hier als zentrale Aufgabe verstehen, Autoren zu fördern und ihnen und jungen Regieteams eine Zukunftsperspektive zu geben.
Eine erweiterte Stückemarkt-Idee?
Schultze: Na ja, es dockt freilich da an, ist aber schon noch etwas anderes, denn es sind ja keine Gastspiele dabei, sondern es werden ja alle Sachen selbst produziert. Wir haben gut 140 Mitwirkende inklusive der Regieteams, die hier zur Zeit miteinander arbeiten. Und wir sind froh, dass sie alle sich auf dieses doch recht komplexe Projekt eingelassen haben.
Das klingt organisatorisch komplex, wie läuft das für Besucher ab?
Schultze: Es ist eigentlich ganz einfach: Man kann sich vorher über Autoren und Inhalte der Stücke informieren und sucht sich dann eine von sechs Routen aus, die Namen tragen wie „Boykotteur*innen“, „Dissident*innen“, „Whistleblower*in“ oder „Guerillas“. Dann nimmt man sich einen warmen Pullover und festes Schuhwerk mit, weil man länger unterwegs ist, und geht an einen der spannenden Startpunkte der Route, hier bei uns im Theater oder eben auch in der Uni-Anatomie oder in der US-Chapel. Mehr muss man gar nicht machen, von dort aus wird man betreut, geführt geleitet oder auch mal gefahren. Und zwischen den unterschiedlichen Spielorten gibt es natürlich auch etwas zu erleben.
Was denn?
Schultze: Man kann etwa Demo- und Widerstandsplakate selber erstellen, kann in einem Widerstandschor mitsingen. Das heißt, das Interaktive, das zusätzlich stattfindet, um sich noch intensiver mit einem Thema zu beschäftigen, bietet über den Theaterbesuch hinaus den Reiz der Austauschmöglichkeit mit anderen Besuchern.
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Und was sehen wir an den zehn Spielorten selbst, dass uns zum Austausch anregt?
Schultze: Neun Uraufführungen und eine deutschsprachige Erstaufführung von renommierten Autoren wie Roland Schimmelpfennig, Rebekka Kricheldorf, Raphaela Bardutzki, Konstantin Küspert oder Philipp Löhle - in Szene gesetzt von Leuten wie Marie Bues, Brit Bartkowiak, Cilli Drexel oder Daniela Löffner - da müssen Sie lange herumreisen, um das auf einmal geboten zu bekommen …
Alles zum Thema Widerstand?
Schultze: Ja, das sind heftige Themen, über die man sich ihrer Dringlichkeit wegen und aus emotionaler Beteiligung meist auch gleich austauschen möchte. Die Ukrainerin Oksana Sawtschenko hat biografisch ihre eigene Fluchtgeschichte verarbeitet - oder nehmen Sie „Das Licht der Welt“ im Marguerre-Saal, wo es um Umweltschutz und den Widerstand in einem Baumcamp geht. Alles Themen, die uns derzeit massiv umtreiben.
Mangelnden Aktualitätsbezug kann man Ihnen mit Blick auf die Nachrichtenlage im Iran und in Russland nicht vorwerfen …
Schultze: Es ist schon verrückt, dass man vor anderthalb Jahren so ein Festival konzipiert hat und jetzt in einer Realität ankommt, die das Thema sozusagen wochenaktuell geplant aussehen lässt. Ein besseres und aktuelleres Thema als Widerstand kann man sich überhaupt nicht suchen. Es ist fast schon gruselig.
Zeigt aber, wie visionär Theater sein kann?
Schultze: Genau, es beweist, wie sehr Theater immer noch in der Lage ist, gesellschaftliche und weltpolitische Tendenzen zu erspüren und thematisch vorwegzunehmen.
Die Stücke kommen dann alle auch in s Heidelberger Repertoire?
Schultze: Genau, das ist der Plan, noch kämpft die Disposition mit den Möglichkeiten. Ein Kernstück für Heidelberg ist da Philipp Löhles Stück zum RAF-Attentat der „Mai-Offensive“ 1972 auf das US-Headquarter, es wird im Mark-Twain-Center weitergespielt werden.
Klingt alles toll, aber kostspielig. Haben Sie im Lotto gewonnen?
Schultze: Nein, leider nicht. (schmunzelnd, sehr langsam und gesetzt:) Es ist die Kunst des Intendanten, in Corona-Zeiten und danach, geschickt mit Etats umzugehen und solche Festivals zu ermöglichen. Im Ernst: Sei es Adelante, Tanzbiennale oder eben Remmidemmi, genau solche Formate prägen unser Profil, da lohnt es sich schon, ein wenig die Gelder zu schieben. Und aufgrund der Außergewöhnlichkeit des Projekts, sind auch alle Beteiligten mit hohem Idealismus an die Sache herangegangen.
Gilt das auch für Ihre Mitarbeiter, Schauspieler, Gewerke, die sozusagen neben dem normalen Spielbetrieb von einem Festivalgroßeinsatz zum nächsten taumeln? Haben die keine Gewerkschaft?
Schultze: Doch, doch die Gewerkschaften sind super, aber Heidelberg ist ein sehr leistungsstarkes Theater, wobei ich ehrlich sage, dass das Haus schon an der Leistungsgrenze ist. Aber wenn wir von Relevanz des Theaters reden, ist es auch eine unendliche Chance.
Wo steht das Theater in Corona-, Energie- und andern Krisen?
Schultze: Genau diese Frage ist Teil unserer Motivation. Unsere Antwort: Theater muss sich zeigen. Es muss präsent sein, um relevant zu sein - gerade mit solche Projekten, die sich der Realität stellen - auch mit Widerstand.
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