Heidelberg. Schnee, Eis und winterliche Tristesse an Rhein und Neckar - Zeit für Abenteuer! Nicht weniger als eine Reise zu weitgehend Unbekanntem bietet das Theater Heidelberg von 3. bis 10. Februar mit seinem Festival Adelante. Sie geht nach Iberoamerika, per Definition ein Sammelbegriff für die ehemaligen Kolonien Spaniens und Portugals auf dem amerikanischen Kontinent unter Einschluss dieser beiden europäischen Staaten der iberischen Halbinsel.
Zwar sind jene Länder zumeist sonnig, politisch aber hitzig und sozial teils gar Brandherde. Seit zehn Jahren fokussiert sich Intendant Holger Schulze und sein Festival-Team nun auf den Kontinent, von dem hierzulande wenig die Rede ist. In den Medien ploppt Lateinamerika mal auf, wenn eine Präsidentschaftswahl ansteht oder ein rechter Kandidat an die Macht kommt, wie unlängst Javier Milei in Argentinien oder zuvor Jair Bolsonaro in Brasilien. „Das sind die Dinge, die man dann mal so mitbekommt, die aber schnell wieder aus dem Tagesgeschehen verschwinden”, erklärt Lene Grösch, Dramaturgin und Künstlerische Co-Leiterin des nun bereits zum dritten Mal stattfindenden Theaterereignisses, das sich in Deutschland echte Einzigartigkeit auf die Festivalfahnen schreiben kann. Wer einen tieferen Blick in südamerikanische Verhältnisse sucht, ist Anfang Februar in Heidelberg also richtig, wo zwölf Gastspiele aus Lateinamerika und Portugal zu sehen sind.
Was ist spannendes Theater?
Ilona Goyeneche wohnt seit zwölf Jahren in Mexiko, pendelt aber als unabhängige Kulturmanagerin und Kuratorin zwischen Chile und anderen Staaten Südamerikas hin und her, betreut deutsch-mexikanische Projekte, ist als Scout für Adelante tätig und für die nationale Theaterkoordination in Mexiko. In Kontakt mit dem Theater Heidelberg kam sie, als dieses sie für den Stückemarkt 2015 als Scout für das damalige Gastland Mexiko anfragte. Dabei entstand die Idee, ein iberoamerikanisches Festival auf den Weg zu bringen, das nun nach 2017 und 2020 zum dritten Mal unter dem schönen Titel Adelante! (Vorwärts!) an verschiedenen Spielorten in Heidelberg stattfindet.
Was ist für Ilona Goyeneche spannendes Theater? „Diese Frage stellen wir uns selbst häufig. Nein, im Ernst, das Besondere an unserer Art zu kuratieren ist, dass wir uns vorab keine Themen setzen, außer dass wir natürlich versuchen, besonders aktuelle Inszenierungen zu sichten.”
Gesucht wird dabei nach Produktionen, die „einerseits den aktuellen Stand der Theaterszene spiegeln, also welche Theaterformen in den verschiedenen Szenen gemacht werden” als auch „nach Produktionen, die einen Einblick in das Land geben und die Themen geben, die es gerade beschäftigen”. Fündig wird sie dabei etwa bei Festivals wie „Teatro a Mil” (Santiago de Chile) und „FIBA“ (Buenos Aires), aber auch bei kleineren lokalen Festivals in Mexiko oder Uruguay.
Wichtig ist Ilona Goyeneche und ihrem Kollegen Jürgen Berger, dass dabei nicht nur Theater und Themen der Hauptstädte oder einzelner Festivals vertreten sind, sondern dass auch interessante Produktionen aus kleineren Städten und Provinzen zum Zuge kommen. Das gibt dem Heidelberger Adelante-Festival ein Format, das mittlerweile international beobachtet wird, in Deutschland einzigartig ist und auf europäischer Ebene allenfalls im kleineren Rahmen in London stattfindet.
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Wie steht es nun um die lateinamerikanische Szene? Ilona Goyeneche sprudelt vor Begeisterung: „Theater hat hier grundsätzlich einen sehr hohen Stellenwert. In Lateinamerika geht jeder ins Theater. Chile, Mexiko, Brasilien oder Argentinien haben darin eine beeindruckende Tradition und von daher auch eine unglaublich lebendige Theaterszene. Andere Länder wie etwa Bolivien, Peru, Kolumbien oder Uruguay konnten sich in den letzten Jahren zunehmend entwickeln.”
Die Ästhetiken sind dabei höchst unterschiedlich, und so muss man auch in Heidelberg manche Arbeiten im Kontext ihrer Entstehung sehen, etwa „Déjà vu“ aus Bolivien (5. 2.), das mit indigenen Frauen arbeitet. Diese Produktion wurde dort auch auf Plätzen und in Schulen gezeigt, um verschiedenen Gruppen und Dörfern zu verdeutlichen, dass „normalisierte tägliche Gewalt“ eben nicht normal und nicht richtig ist. Lene Grösch erklärt: „Deswegen sind auch die Nachgespräche zu den Inszenierungen ein so wichtiger Bestandteil unseres Festivals. Weil es eben nicht darum geht, dass wir unsere eurozentrische Theaterästhetik als Grundbedingung setzen und sagen: Wer europäisch kompatibel ist, den laden wir ein. Das suchen wir gerade nicht, sondern Produktionen, die ein politisch-gesellschaftliches Motiv oder Anliegen haben, das eben auf unterschiedliche Weise gemeinsam entwickelt, dargestellt und präsentiert wird.”
Politisch und ästhetisch vielfältig
Zu sehen ist daher bei Adelante wieder eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Ästhetiken und Formen des Theaters. Dabei ist demnach hochästhetisches Bildertheater, wie etwa die Produktion „Der Mond im Amazonas“ des kolumbianischen Mapa Theaters (8. 2.) oder „Land des Leids“ aus Mexiko (10. 2.). Daneben sind aber auch Abende zu sehen, die im Hinblick auf hiesige Theaterformate ganz anders funktionieren, weil sie ein dringendes Anliegen, eine spürbare Not vermitteln.
Wichtig ist Ilona Goyeneche und Lene Grösch dabei, „die Balance zu halten, weder eurozentristisch zu scouten, noch Produktionen einzuladen, die rein auf einer Folklore-Ebene funktionieren oder Klischees oder unsere kulturellen Stereotypen reproduzieren.“ Ilona Goyeneche unterstreicht, dass „die persönlichen Situation derjenigen, die davon leben, Theater zu machen, extrem hart ist. Man macht Theater, weil man ein Thema verhandeln will und nicht, weil man davon seinen Lebensunterhalt sichern könnte. Das tut es zum größten Teil auch nicht.“
Die Lebensrealitäten sind bekanntlich hart in Lateinamerika. Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro nannte alle Künstlerinnen und Künstler „Schmarotzer des Systems”. „Die Jahre von 2019-2002 waren für die Kunst der blanke Horror” erklärt Goyeneche und ergänzt: „Auch in Kuba gibt es einen Massenexodus, dem sich besonders viele Künstlerinnen und Künstler anschließen.“
Bei der Frage nach absoluten Empfehlungen für Kurpfälzer, die nicht alles sehen können, stöhnen die Kuratorinnen natürlich auf, schließlich haben sie ja ein Gesamtpaket zusammengestellt. Besonders erwärmen können sie sich aber neben den erwähnten Arbeiten für die „Hamlet”-Adaption aus Peru (6. 2.), die mit Trisomie-21-Menschen arbeitet, die sich zu dieser bekannten Theatergeschichte ins Verhältnis setzen und mit ihren eigenen Perspektiven anreichern.
Wer auf die Reise zu unbekannten Perspektiven und Ländern gehen will, für den gilt: Adelante! Zu Deutsch: Vorwärts!
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