Mannheim. Haben Kunst und Kultur die Kraft, politisches Bewusstsein zu schärfen und gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen? Für die beiden Choreografen Martin Harriague und Andrew Skeels ist das keine Frage. „Für eine bessere Welt einzutreten, sollte als Künstler unsere wichtigste Aufgabe sein, besonders in der heutigen Gesellschaft, in der faschistische Bewegungen zurückkommen und Hass und Intoleranz propagieren“, lässt sich der Franzose Harriague im Programmheft zitieren.
Auch sein in den USA aufgewachsener und mittlerweile in Kanada lebender Kollege Skeels schreibt Künstlern darin einen erheblichen Einfluss zu: „Kunst und Kultur hinterfragen Normen und Systeme.“ Das wisse auch die amtierende Regierung seines Geburtslandes: „Menschen wie Trump sehen das als Bedrohung an. Und das sollten sie auch. Denn es ist eine Bedrohung für sie.“
„One Love“ – zwei Choreografien
Andrew Skeels , Jahrgang 1980, ist in Boston aufgewachsen und mittlerweile in Montreal zuhause. In „The Burning of Jamestown“ setzt er sich mit den aktuellen Entwicklungen in den USA auseinander.
Martin Harriague , Jahrgang 1986, stammt aus dem französischen Biarritz und ist seit 2024 Ballettdirektor der Opéra Grand Avignon. Mehrere Jahre tanzte er in Israel. Das Album „Hebron Gate“ der kalifornischen Reggae-Band Groundation inspirierte ihn zum Stück „The dreamer“.
„One Love“ verbindet beide in Mannheim entstandenen Arbeiten zu einem Abend im Zeichen von Liebe, Frieden und Menschlichkeit.
Weitere Vorstellungen gibt es am 8., 10. 24. und 30. Mai im Alten Kino Franklin um 19.30 Uhr. An allen Terminen wird jeweils um 19 Uhr eine Kurzeinführung angeboten.
Am 30. Mai schließt sich beim „One Love Special“ an die Vorstellung eine Party mit Live-Musik von DJ Zio Wintz an. Karten: www.nationaltheater-mannheim.de oder telefonisch unter 0621/1680-150. uma
Dass der Tanz-Intendant des Mannheimer Nationaltheaters, Stephan Thoss, die Bühne des Alten Kinos Franklin für den zweiteiligen Abend „One Love“ gerade diesen beiden Gastchoreografen überlässt, ermöglicht ein Tanzereignis von besonderer Intensität mit zwei beeindruckenden und vom Publikum heftig gefeierten Uraufführungen, die – jede auf ihre Art - politische Botschaften in große Kunst verpacken.
Düster-dystopischen Kommentar zur aktuellen politischen Lage der USA
Der Abend eröffnet mit Andrew Skeels „The Burning of Jamestown“, einem düster-dystopischen Kommentar zur aktuellen politischen Lage der USA, der Donald Trump gar nicht erwähnen muss, um einen Appell zum gemeinschaftlichen gewaltfreien Protest gegen dessen Agitieren gegen demokratische Institutionen und die Unabhängigkeit der Justiz zu implizieren.
Der Titel bezieht sich auf eine wenig bekannte Episode aus der amerikanischen Geschichte im Jahr 1676, 100 Jahre vor der Erklärung der Unabhängigkeit. In der ältesten nordamerikanischen Kolonie Virginia gab es seinerzeit einen kollektiven Aufstand von versklavten schwarzen und armen weißen Menschen gegen die Vorherrschaft der Eliten, der harte Gesetze zur Rassentrennung zur Folge hatte.
Im diffusen Bühnenlicht sehen wir die Säulen des Supreme Court. Die zentrale Stele ist gebrochen, über ihren Ruinen formen zwei goldene Gewehre ein Kreuz. Die roten Vorhänge sind verbrannt, Korruption hat das System der „checks and balances“, die Gewaltenteilung als Kern der amerikanischen Verfassung, ausgehöhlt. In der Mitte dieser postapokalyptischen Szenerie rotiert eine Drehscheibe, die den höchsten Richtern mit ihren blutbefleckten Händen sowie den enthemmten politischen Eliten, die sie ernannt haben, unaufhaltsam ihre Opfer entgegentreibt. Zentrales Requisit ist eine golden glänzende Pistole.
Lorenzo Angelini und Arianna Di Francesco nutzen sie für ein hinreißendes Duo und eine Randnotiz zur Allgegenwart von Waffen in der amerikanischen Gesellschaft. Luis Tena Torres stolziert als entmythologisierter Staatsgründer George Washington mit ihr umher und richtet sie immer wieder auf sein Volk. Die 13 Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles, die es verkörpern, tragen rußgeschwärzte Arbeitskluft.
Wie ungleich die Möglichkeiten der beiden Lager sind, zeigt Andrew Skeels auch choreografisch: Das Bewegungsvokabular der Unterdrückten schöpft aus zeitgenössischen Stilen wie dem Krumping, die, untermalt von der stimmigen Originalkomposition von Antoine Seychal, das Werfen von Speeren oder das Zielen mit Pfeil und Bogen andeuten. Eindrücklich symbolisieren sie die Wirkungsmacht der Gemeinschaft: Indem sie sich der Obrigkeit einkreisen und sich ihr geschlossen entgegenstellen, wird am Ende George Washington zum Angeklagten und das System gewaltlos infrage gestellt.
Eine musikalische Überraschung als Teil der Premiere
Martin Harriagues Choreografie „The Dreamer“ bildet dazu nach der Pause einen fundamentalen und wunderbar leichtfüßigen Kontrast: Inspiriert vom Geist des Reggae feiert er die verbindende Kraft von Musik und Tanz als Motor für Liebe, Frieden, Menschlichkeit und den Traum von einer besseren Welt. Der Franzose lässt acht Tänzerinnen in engen Shirts und weiten Cargohosen zur Musik der Band „Groundation“ tanzen, deren Gründer und Sänger Harrison Stafford – eine Überraschung exklusiv zur Premiere! – sieben Songs aus dem Album „Hebron Gate“ aus dem Jahr 2002 live auf der Bühne performt.
Der Titel „The dreamer“ ist in doppelter Hinsicht passend: Harriague hatte jahrelang von der Idee geträumt, Reggae-Musik zur Basis einer Choreografie zu machen. Vor einer dreiseitigen Kulisse vielfarbiger Wolkenformationen lässt er diesen Traum nun Wirklichkeit werden: Angetrieben vom Rhythmus der Musik und der sympathischen Präsenz des mittanzenden Sängers agiert das Ensemble in Reihen, bewegt sich in Wellen und rotiert in Kreisen.
Immer wieder inspiriert einer die anderen, eine Bewegung aufzunehmen und fortzuführen. Eine Bank am hinteren Ende der Bühne ist gleichzeitig Schlaginstrument und Ausgangspunkt für mitreißende Soli, in denen Arianna Di Francesco, Natsuho Matsumoto, Dora Stepušin, Anna Zardi, Lorenzo Angelini, Albert Galindo, sowie die herausragenden Nicola Prato und Noa Siluvangi ihre individuelle Klasse zeigen können und sich bis zur Erschöpfung verausgaben, während Harrison Stafford von der Schwere des Lebens singt, die auf seinen Schultern lastet, und von seinen Hoffnungen und Träumen, die er und alle Menschen nie aus den Augen verlieren dürften.
Er schließt mit dem Appell: „One hope, one destiny, one love“ – eine Hoffnung, eine Bestimmung, eine Liebe - und dem nur von seiner Gitarre begleiteten Stück „Live it up“ als Zugabe.
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