Theaterfestival - Der zehntägige 39. Heidelberger Stückmarkt ist am Sonntagabend mit der Preisverleihung zu seinen sechs Wettbewerben und den spanischen Gastspielen „Birdie" und „Othello" zu Ende gegangen.

Stückemarkt: "Die Menschen dürsten nach Theater"

Von 
Martin Vögele
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Bringt Hitchcocks Klassiker „Die Vögel“ in Verbindung mit heutiger Migration: die Multimedia-Performance „Birdie“. © Pasqual Gorriz

„Wir hatten mehr Zuschauer als vor Corona“, konnte Theaterintendant Holger Schultze zum Abschluss des 39. Heidelberger Stückemarkts vermelden. 7650 seien es gewesen, „da kommen noch ein paar Veranstaltungen dazu“ und auch bei den Streams habe es viele Klicks gegeben. „So dass man sagen muss: Die Menschen dürsten nach Theater!“, konstatierte Schultze im Alten Saal des Theaters, wo kurz darauf die Preise der verschiedenen Wettbewerbe des Theaterfestivals vergeben wurden – so auch der mit 10 000 Euro dotierte Autor*innenpreis, der an Ivana Sokola für ihr Stück „Pirsch“ ging. Den mit 5000 Euro dotierten internationalen Autor*innenpreis erhielt María Velasco mit „Ich will die Menschen ausroden von der Erde“.

Das Festival habe beeindruckend gezeigt, dass das Theater „die wichtigen Themen der Zeit aufgreifen und diskutieren kann“, sagte Schultze. Auch habe es aus seiner Sicht noch nie einen Stückemarkt gegeben, „in dem Inklusion, Diversität so offensichtlich reflektiert wurden, wie in diesem Jahr“.

Wichtig sei es ihm zudem gewesen, auf die gegenwärtige Situation in der Ukraine hinzuweisen – es hatte in diesem Zusammenhang eine Diskussion mit Autorinnen und Autoren aus der Ukraine gegeben, die 2017 Gastland des Festivals gewesen war. Für den Stückemarkt, der auch für Internationalität stehe, bekräftigte Schultze: „Wir als Theater Heidelberg werden alles tun, mit den Künstlern aus der Ukraine zusammenzuarbeiten und ihnen hier eine künstlerische Heimat zu geben.“

„Ihr schafft es immer wieder, die Menschen in Europa, die kulturinteressiert sind, die theaterinteressiert sind, ob sie nun Autorinnen und Autoren, ob sie jetzt Schauspielerinnen und Schauspieler sind, zusammen zu führen, in einen Diskursprozess zu bringen“ und „ihnen eine Bühne zu geben“, würdigte Heidelbergs Oberbürgermeister Eckart Würzner die Arbeit des Intendanten und seines Teams.

Schultzes Eindruck zu den Beiträgen des diesjährigen Gastlandes Spanien: „Hier sind Künstler eines Landes gerade im Aufbruch. Sie suchen neue Themen, sie suchen neue ästhetische Formen“, erläuterte er. Mit welch frappierender Wirkungswucht und Vitalität hier verschiedene Kunst- und Theaterformen verschmolzen werden, zeigte sich beispielhaft in den beiden zuletzt gezeigten spanischen Produktionen.

Die Auszeichnungen

  • Folgende Autoren und Stücke wurden in den einzelnen Kategorien ausgezeichnet:
  • Autor*innenpreis (dotiert mit 10 000 Euro), gestiftet von der Manfred Lautenschläger-Stiftung: Ivana Sokola für ihr Stück „Pirsch“.
  • Internationaler Autor*innenpreis (5000 Euro), gestiftet vom Land Baden-Württemberg: María Velasco mit „Ich will die Menschen ausroden von der Erde“.
  • Jugendstückepreis (6000 Euro), gestiftet vom Heidelberger Unternehmer-Ehepaar Bettina Schies und Klaus Korte: Schauspiel Hannover für „Vater unser“ nach dem Roman von Angela Lehner. Zudem eingeladen in das Rahmenprogramm der Mülheimer Theatertage NRW 2023.
  • Nachspielpreis (undotiert, mit Gastspieleinladung zu Autor:innentheatertage 2023 am Deutschen Theater Berlin verbunden): „Ode“ von Thomas Melle in der Inszenierung am Schauspiel Köln.
  • Publikumspreis (2500 Euro), gestiftet vom Freundeskreis des Theaters und Orchesters Heidelberg: „zwei herren von real madrid“ von Leo Meier.
  • SWR2 Hörspielpreis (5000 Euro), von SWR und Theater Heidelberg gemeinsam ausgelobt: Leo Meier mit „zwei herren von real madrid“. 

Spanische Produktionen

Zunächst bei „Birdie“ im Zwinger 3 - eine absolut staunenswert inszenierte Objekttheater- und Multimedia-Performance der Agrupación Señor Serrano aus Barcelona, in der sich David Muñiz, Pau Palacios, Àlex Serrano und Sprecherin Simone Milsdochter mit dem Thema Migration befassen. Unzählige Modellfiguren, Miniaturen und Bilder kommen darin zum Einsatz, werden live gefilmt, immer wieder mit Szenen aus Alfred Hitchcocks Film „Die Vögel“ verbunden und in Beziehung zum unaufhörlichen Element der Bewegung gesetzt.

Anhand eines Dioramas wird auch das surreal anmutende Foto von José Palazón analysiert, das der Fotograf und Menschenrechtsaktivist in der spanischen Nordafrika-Exklave Melilla aufgenommen hatte und das eine Gruppe von Migranten zeigt, die versucht, einen Grenzzaun zu überwinden – der am Rand eines bespielten Golfplatzes aufragt. Bald folgen die Kameras einem Figuren-Zug auf dem Bühnenboden, der an Ölfeldern vorbei führt, Ertrinkende und Zelt-Camps zeigt und sich bis zum Zaun vor einer Golfplatz-Fahne hinauf windet. So vordergründig leicht und musikalisch beschwingt „Birdie“ beginnt, so erschreckend lebendig wird dieser Miniaturen-Strom zum Sinnbild einer menschlichen Tragödie.

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Im Marguerre-Saal erleben wir Shakespeares „Othello“ in einer „sehr freien“ Version, wie in der so launig wie schon doppelbödig konstruierten Einleitung zu dem Stück von Regisseurin Marta Pazos und Autor Fernando Epelde zu erfahren ist. In der Koproduktion der galizischen Theaterkompanie Voadora mimt Schauspielerin Mari Paz Sayago nicht nur die Desdemona, sondern verleiht auch allen anderen Figuren ihre Stimme (wozu die anderen Ensemblemitglieder ihre Lippen bewegen). Sie wird so zur Erzählerin ihrer Geschichte, schiebt den Fokus weg von den Männern und deren von Ehren- und Größenwahn pudrig dampfenden Testosteron-Egos. Nur Emilia (Pablo Chavez) spricht sich selbst und wird damit zur zweiten souveränen Stückträgerin.

Durchgehend von Musik begleitet und sehr choreographisch hat Marta Pazos ihren „Othello“ inszeniert, den sie mit Witz, Verve und kritischem Bewusstsein (nicht zuletzt schafft sie eine Blickachse vom Rassismus im Stück zu „Black Lives-Matter“-Erfahrungen) aus allen eng geschnürten Theaterkorsettvorstellungen heraus mitten in die Gegenwart katapultiert.

Freier Autor

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