Mannheim. Fragen der Rechtschreibung stehen im Mittelpunkt der Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) kommende Woche in Mannheim. IDS-Direktor Lobin äußert sich dazu im Interview ebenso wie über gendergerechte Formen und den Einfluss digitaler Systeme auf die Sprachentwicklung.
Herr Lobin, vor einem Vierteljahrhundert wurde über die damalige Rechtschreibreform heftig gestritten. Heute dagegen lässt das Thema Orthografie, also Schreibregeln, die Öffentlichkeit eher kalt, oder?
Henning Lobin: Ich glaube schon, dass sich die Rechtschreibreform etabliert hat und die anfänglichen Verwerfungen Schnee von gestern sind. Die Reform ist in der Sprachwirklichkeit angekommen und stellt für die Menschen heute auch kein Problem mehr dar.
Man sollte bei gendergerechten Sprache einen toleranten Blick üben und keine Polarisierung befördern
Derzeit wird viel über eine geschlechtersensible Sprache und das „Gendern“ diskutiert. Ist das heute womöglich das Aufregerthema, das früher Groß- und Klein- sowie Getrennt- und Zusammenschreibung bildeten?
Lobin: So kann man es verstehen, weil in der Diskussion um geschlechtergerechte Kennzeichnungen oft die geltenden Schreibregeln ins Feld geführt werden, die darüber eben nichts aussagen. Allerdings geht das „Gendern“, anders als die Rechtschreibreform, weit über das Thema Sprache hinaus. Es hat ja gesellschaftspolitische Bedeutung auch im Allgemeinen. Die Rechtschreibung ist eigentlich nur insofern tangiert, als der sogenannte Genderstern vom Regelwerk nicht erfasst ist.
Warum verbinden sich überhaupt oft starke Emotionen mit sprachlichen Themen?
Lobin: Für uns alle ist Sprache etwas, das uns persönlich angeht und unser ganzes Leben durchzieht. Insofern betrifft sie uns auf andere Weise als viele politische Themen, von denen oft die Rede ist und die eher im abstrakten Rahmen bleiben. In diesem Sinne können sprachliche Themen immer auch Emotionen auslösen - wie es ja schon bei der Rechtschreibreform zu beobachten war.
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Der Rat für Rechtschreibung, dem sie selbst angehören und der etabliert wurde infolge der Diskussion um die Rechtschreibreform, hat angekündigt, sich zur gendergerechten Sprache noch zu äußern und gegebenenfalls eine Empfehlung abzugeben. Beobachtet er noch lange oder empfiehlt er bald?
Lobin: Im nächsten Jahr soll sich der Rat erneut mit dem Thema befassen. Er beobachtet das Schreibverhalten der Menschen kontinuierlich, ich erwarte aber nicht, dass er eine Empfehlung in dem Sinne geben wird, dass beispielsweise der Genderstern zu verwenden sei. Das ist nicht die Aufgabe des Rats. Allenfalls kann es für ihn um die Frage gehen, ob der Stern überhaupt verwendet werden kann. Vorher wäre allerdings zu klären, ob es sich dabei um ein Thema der Rechtschreibung und Zeichensetzung handelt. Punkt, Komma, Ausrufungszeichen behandelt das Regelwerk selbstverständlich, sie haben eine direkt auf die Sprache bezogene Funktion. Prozentzeichen, E-Mail-Zeichen oder anderes, das sich auf jeder Computertastatur findet, ist nicht im Regelwerk behandelt, ihre Verwendung wird aber dennoch nicht als Rechtschreibfehler verstanden. Das Regelwerk regelt einen Kernbestand und nicht Sachverhalte, die eher zur Typographie gehören. Und der Rat hat im Übrigen sowieso nicht die Aufgabe, Vorgaben zur deutschen Sprache jenseits der Orthografie zu machen.
Lobin und der Kongress
- Der Sprachwissenschaftler Henning Lobin (58) leitet das Mannheimer Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) seit 2018. Zuvor lehrte er Linguistik an der Universität Gießen.
- Die 59. Jahrestagung des IDS trägt den Titel „Orthografie in Wissenschaft und Gesellschaft“; der Kongress findet von 14. bis 16. März im Mannheimer Kongresszentrum Rosengarten statt.
- Zur Jahrestagung erwarten die Veranstalter rund 400 Gäste aus 24 Ländern.
Mithin bliebe gendergerechtes Schreiben schlicht der Freiheit jedes Einzelnen überlassen. Sie selbst sind Mitglied in dem Gremium: Welche Formen würden Sie bevorzugen und weshalb?
Lobin: Ich bin der Meinung, der Rat sollte hier keine Empfehlung geben. Es gibt eine Vielfalt von Verwendungsweisen, die man alle nicht verteufeln sollte. Ich denke, hier wird sich eine bestimmte Praxis etablieren. Die Sprachgemeinschaft wandelt sich, viele Menschen haben ein Interesse, sich gendergerecht auszudrücken, andere wiederum lehnen es ab. Man sollte hier einen toleranten Blick üben und keine Polarisierung befördern. Ich vermute, dass es nie zu einer einheitlichen Form und Verwendungsweise kommen wird.
Die Rechtschreibung ist auch Thema der Jahrestagung des IDS in der kommenden Woche. Wieso wurde dieses Thema gewählt?
Lobin: Das Thema wurde auch deshalb gewählt, weil Ende des Jahres eine Arbeitsperiode des Rats für Rechtschreibung zu Ende geht. Dann geht erneut den zuständigen Stellen, in Deutschland der Kultusministerkonferenz, ein Bericht zu. Wir möchten auf der Jahrestagung die intensive Arbeit unseres Instituts wie der Sprachwissenschaft insgesamt in Sachen Orthografieforschung darstellen. Obwohl die Rechtschreibung ein vergleichsweise kleines Gebiet ist, lässt sich an ihr vieles über die Wechselwirkung von Sprache und Gesellschaft ablesen -natürlich auch deshalb, weil sie im Bildungsprozess eine Rolle spielt.
Zu einem Sprachverfall werden digitale Systeme wie ChatGPT nicht beitragen
Schreibregeln würden aktuell weniger beachtet und ihre Kenntnis nehme ab, wird immer mal wieder gesagt: Lässt sich das belegen?
Lobin: Es kommt darauf an, welche Art von Texten man betrachtet. Bei WhatsApp-Nachrichten, geschrieben am Handy, wird auf Regeln natürlich nicht so viel Wert gelegt wie bei offizielleren Anlässen. In letzterem Zusammenhang gilt die Orthografie nach wie vor als Ausweis sprachlicher Genauigkeit, auch von Bildung, weshalb man darauf achtet, fehlerlos zu schreiben. Insofern lässt sich nicht sagen, auf breiter Basis seien regelkonforme Schreibungen seltener geworden, allerdings gibt es weiterhin verbreitete Unsicherheiten, etwa bei der Getrennt- und Zusammenschreibung oder der Kommasetzung, wie etwa vor erweiterten Infinitivsätzen. An diesen Stellen soll im Regelwerk nachgebessert werden, um eine einprägsamere Formulierung der Regeln zu erzielen und eine leichtere Vermittlung in der Schule.
Die Digitalisierung schreitet allerdings fort, könnte von daher der offizielle Bereich, in dem korrektes Schreiben angestrebt ist, nicht doch spürbar kleiner werden?
Lobin: Das ist schwer zu sagen, ich denke, Rechtschreibung, Typographie, Gestaltung haben heute die Bedeutung, die früher eine saubere Handschrift hatte. Wer anschaulich, lesbar und verständlich schreibt, erweckt damit einen positiven Eindruck, belegt auch einen gewissen Bildungsgrad. Das wird wohl so bleiben. In der Gesellschaft insgesamt gibt es freilich die Tendenz einer zurückgehenden Formalität, man denke nur an Kleidungskonventionen, Begrüßungs- oder Anredeformen. Das ist schon seit Jahrzehnten der Fall und betrifft auch die Sprache und ihre Regeln. Für die orthografischen Regeln spricht aber, dass sie die Lesbarkeit verbessern, deshalb bleiben sie von Bedeutung.
Von neuen Formen Künstlicher Intelligenz ist jetzt viel die Rede, am Beispiel von ChatGPT, und davon, dass sie unseren Alltag stark prägen wird. Werden die Maschinen auch sprachbildend sein, bezogen auf Schreibregeln oder anderes?
Lobin: Ich denke schon, dass das so sein wird. Diese digitalen Anwendungen reproduzieren Sprache ausgehend von realen, von Menschen geschriebenen Texten, allerdings in einer bestimmten Auswahl, die für den Lernprozess der Maschinen getroffen worden ist. Das heißt, dass ein solches System eine ganz bestimmte Sprachstufe reproduziert. Bei ChatGPT beispielsweise wurden bislang überwiegend Texte ausgewählt, die standardsprachlich geprägt sind, ja geradezu der Bildungssprache entsprechen. Derzeit können wir dabei zusehen, wie diese Systeme eigenständige Akteure im sprachlichen Miteinander werden, insofern werden sie auch Einfluss auf die Weiterentwicklung der Sprache haben, sei es hinsichtlich von neuen Wörtern, Redeweisen oder anderem. Das wird auch mein Institut künftig mehr in den Blick nehmen müssen.
Wenn die Systeme aus schriftlichen, differenzierten Quellen schöpfen, könnte man vermuten, dass sie das Sprachniveau zumindest nicht senken werden …
Lobin: Diese Vermutung lässt sich anstellen - auch wenn derzeit nicht bekannt ist, aus welchen Quellen sich ChatGPT genau bedient, aber es sind überwiegend professionell erstellte Texte, die für ein gewisses Sprachniveau stehen. Zu einem Sprachverfall werden diese digitalen Systeme jedenfalls nicht beitragen.