Heidelberg. Am Ende, wenn hier alles gesagt ist, folgt kein Versprechen mehr. Es folgt ein Versprecher: Er wünsche einen tollen Festivaljahrgang 2028, sagt dann Intendant Thorsten Schmidt zur Eröffnung des Festivals, und schnell ertappt man sich beim Rechnen: Es ist 2024, der Heidelberger Frühling geht in seine 28. Spielzeit, und 2028 ist immerhin das Jahr, in dem Schmidt, Jahrgang 1962, 66 wird, also eigentlich hinüber switchen könnte in jenen Zustand, in dem das (eine) Leben angeblich anfängt und das andere oft endet. 32 Jahre würde Schmidt dann das größte Festival dieser Art im Land geleitet haben - eine Zahl, die unweigerlich mit Beethovens Sonatenwerk verbunden ist. Alles würde passen. Die Spekulationen schießen auch beim Festivalempfang nach dem Auftaktkonzert wild ins Kraut - dass Schmidt an dem Abend keine Krawatte im CI-Grün des Frühlings trägt, sondern Freiheit verheißendes Hellblau - es macht die Sache nicht besser. Was, wenn der Mann … man will lieber nicht dran denken.
Aber ob nun Freud‘scher (Wunsch)-Versprecher oder nicht: Er wirkt immer noch dynamisch, tatenkräftig und, ja, jung, und irgendwie passt Brahms dann doch nicht so ganz zu ihm. Auf die Frage „Lieben Sie Brahms“ würde Schmidt einem zwar entgegenrufen: „Natürlich, und wie!“ Aber. Nun ja. Brahms ist eben das Motto dieses Jahrgangs. Mit Ausrufezeichen. Brahms!
Die Brahms-Stulle wurde mit einer Suite von Dvorák belegt
Wir sind in der Neuen Aula der Heidelberger Universität. Der Saal ist rappelvoll. Gemurmel. Milliardär, Millionär, Reiche, Normalverdiener, Arme und Studentinnen sitzen da. Das ist gut. Mitglieder des Königlichen Konzertgebouw-Orchesters Amsterdam stehen auf der Bühne. Eine Serenade von Brahms wird gespielt. Wie ein Brötchen wird sie aufgeschnitten und mit einer Suite von Dvorák belegt. Zwei Sätze Brahms. Zwei Dvorák. Pause. Zwei Dvorák. Vier Brahms. Schluss. Eine unspektakuläre Festivalouvertüre, fast ein bisschen langweilig. In jedem Fall Spannungskategorie B bis C.
Dabei sind die königlichen Amsterdamer exzellente Musiker. Man merkt, dass sie alles können. Man merkt, dass sie alles ausdrücken können - aber nur, was in der Musik auch drin steckt. Man merkt aber auch, dass sie „nur“ Mitglieder eines weltbekannten Orchesters sind und kein Ensemble, das seit langem durch die Weltgeschichte tourt. Mitunter fehlt etwas Zwingendes. Das liegt auch an den Werken. Serenaden wurden zur Erheiterung und für abendliche Freiluftkonzerte geschrieben. Anspruchsvolle Unterhaltung - wie heute etwa von einem Jazz-Trio gespielt. Nicht weniger. Nicht mehr.
Drei Tage Heidelberger Frühling Musikfestival
Frühling am Montag
10.30 Uhr: Brahms.LAB II - Schulkonzert. Ein musikalisches Geschenk. Eintritt frei. Bürgerhaus Heidelberg Emmertsgrund. 17 Uhr: Brahms.LAB Schaufenster. Eintritt frei. Dezernat 16. 19.30 Uhr: Patricia Kopatchinskaja und die Camerata Bern. Exile. Neue Aula.
Frühling am Dienstag
12.45 Uhr: re:start: Mittagskonzert. Freier Eintritt. Alte Aula. 17 Uhr: Anastasia Kobekina. Jean-Sélim Abdelmoula. Brahms: am Rande der Nacht (ausverkauft). Alte Aula. 19.30 Uhr: Voces Suaves. Gli Incogniti. Buxtehude: Membra Jesu Nostri. Kreuzkirche HD-Wieblingen.
Frühling am Mittwoch
17 Uhr: Jonathan Plowright (Piano). Brahms: allerlei Veränderungen. Alte Aula. 19 Uhr: re:start: Abendbrotkonzert - Im Sinne Brahms‘. Eintritt frei. Gemeindezentrum Lukasgemeinde. 19.30 Uhr: Alexej Gerassimez and friends. Fünf Elemente, viele Instrumente. Neue Aula.
Intendant Thorsten Schmidt fragt: "Wo kommen all die jungen Leute her?"
Szenenwechsel. Mittlerweile ist Samstag Vormittag. Dunkle Wolken ziehen über den Himmel. Vor der alten Universität stehen Menschen und verschenken Kaffee. Sie seien Christen, sagen sie, als ich sie frage, warum sie das tun. Sie schenken nicht Kaffee. Sie schenken Nächstenliebe. Drinnen, im Gebäude, läuft auch Intendant Schmidt schon wieder treppauf, treppab. Den Dreiteiler vom Vorabend hat er gegen Pullover-plus-Sacko-Outfit getauscht. Er wirkt locker und ist baff: „Wo kommen all die jungen Leute her?“, fragt er mit Blick ins Auditorium der Alten Aula. Die Antwort wandelt kurz darauf - Geige spielend - in den Saal. Charlotte Thiele, 23, hat sich diese Matinee des „Brahms.LAB I“ ausgedacht. Sie spielt Fazil Says „Cleopatra“ für Violine solo, ein Stück von 2011, dass sich geschickt zwischen Folklorismen und zeitgenössischen Spieltechniken (gern mit Springbogen) bewegt.
Sie wollen interpretatorische Freiheit spüren, obwohl Youtube-Videos ständig Formatiertes bieten
Warum macht man ein solches Festival? Um Menschen verschiedener Destinationen zusammenzubringen, sie mit Kunst in einen Zustand zu versetzen, der sich in gewisser Weise antinomisch zum Alltag verhält: als Gegenwelt. Thieles Brahms-Labor mit Musik von Robert Schumann, Joseph Joachim sowie den Schumann-Schülern Albert Dietrich und Johannes Brahms tut genau das. Es ist drastisch im Zuschnitt, so ist etwa die (fast) nie zu hörende Gemeinschaftssonate von Dietrich, Schumann und Brahms im Programm. Es ist blutjung, alle fünf Musiker sind in den frühen 20ern oder noch keine 30. Und es ist interpretatorisch schon fast visionär, weil sich darin eine neue, individuelle und radikale Emotionalität Bahn bricht, wie man sie lange nicht gehört hat.
Freiheit in einer Welt voller Manipulation ist auch das Thema. Eine Stimme aus dem Off fragt: Wie kann man in einer Welt voller prägender Youtube-Videos den eigenen Weg der Deutung finden - auch auf die Gefahr hin, sich lächerlich und einsam zu machen? Thiele zeigt, wie es geht. Sie geht expressiv an die Grenzen der Auflösung. Bisweilen wirkt es, als drifte oder hebe sie in andere Sphären ab, so sehr spürt sie jede kleinste Regung der Partitur auf, lebt sie nach, bringt sie zum Vibrieren. Die Frau ist ein Vulkan. Fantastisch. Fantastisch ist hier aber auch das gemeinsame Musizieren etwa in Schumanns Klavierquintett, das Thiele mit Benjamin Günst, Toby Cook, Bryan Cheng und dem formidablen Pianisten Andrei Banciu spielt wie einen tosenden Sturm erregten Blutes. Ein schwer zu toppender erster Höhepunkt.
Johannes Brahms wird auf dem Heidelberger Frühling unter globalen Gesichtspunkten betrachtet
Heidelberg ist voll. Selbst zwischen alter und neuer Universität tummeln sich Menschen. Touristinnen. Studenten. Festivalgäste. Drüben, im von prasselnden Regenschauern attackierten Festivalzentrum, fachsimpeln derweilen zwei Wissenschaftler: Jürgen Osterhammel und Wolfgang Sandberger. Thema: Brahms und die Globalgeschichte. Auch hier sind alle Plätze belegt. Schmidt hört zu.
Sollte man den Führern in den Machtzentralen öfter mal Brahms-Lieder vorsingen?
Brahms hätte, sagt Osterhammel, doch inmitten der von technischen Neuerungen geprägten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewirkt. Dennoch war er altmodisch. Er hätte auch in den USA viel Geld als Pianist verdienen können. Er hatte, obwohl aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, kein Interesse daran. Die latente Frage dieser ersten Brahms-Lounge lautet: Warum? Osterhammel spricht im Folgenden davon, dass nicht alles und jeder in einen globalen Zusammenhang eingegliedert werden könne, aber nun sei eben der „arme Brahms“ dran. Die Anfrage sei vom Festival gekommen. Es sei aber schon überraschend, dass etwa jemand wie Camille Saint-Saëns ein echter Globetrotter gewesen und neben vielen anderen Orten bis nach Vietnam vorgedrungen sei. Und daneben Brahms: ein Provinzler, der weder am umstrittenen Begriff der Exotismen interessiert war, noch sich mit dem Imperialismus verbunden hatte.
Dass die ersten 24 Stunden um 18 Uhr mit ihnen enden - ein klarer Glücksfall: Bariton Christian Gerhaher und Pianist Gerold Huber. Ihr Brahms-Rezital mit rund 30 Liedern ist - wie Theiles Matinee - eine Sensation. Nachdenklich, nuancenreich, textverständlich und in höchstem Maße beseelt klingen die beiden in der Neuen Aula. Besser geht es nicht.
Es ist ein gutes Zeichen, dass man mit dem ollen Brahms die Leute in ihrem Inneren so sehr bewegen kann. Vielleicht sollte man die kopflosen Führer in den Machtzentralen dieser Welt mal - von Gerhaher gesungen -mit solchen Liedern beschallen. Den Versuch wäre es wert. Das Projekt wäre aber wohl selbst für Schmidts „Frühling“ eine Nummer zu groß.
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