Anton Bruckner „müssen“ wir 2024 feiern, da hilft uns kein Gott - 200 Jahre alt wird so ein Komponist schließlich nur ein Mal. Doch Johannes Brahms? Kein rundes Jubiläum provoziert zu dieser Maßnahme, und zu den sträflich unterschätzten, allzu selten aufgeführten Tonsetzern gehört der Mann ja auch nicht unbedingt. Der Heidelberger Frühling rückt ihn dennoch in den Mittelpunkt, das ganze Jahr über, in jedem seiner Festivalsegmente. Also auch beim Streichquartettfest, das wie immer in den tiefsten Winter fällt.
Johannes Brahms arbeitete sich an vielem ab - auch an Ludwig van Beethoven
Von Brahms sind jedoch nur drei Quartette publiziert worden. Was für ein Festival, das immerhin vier Tage währt, nicht allzu viel ist. Brahms tat sich bekanntermaßen schwer mit den zentralen Gattungen der klassischen Musik. Er war ein Mann mit starken künstlerischen Skrupeln, der sich wirklich „abarbeitete“, wie man so sagt. Bevorzugt auch am überlebensgroßen Vorbild Beethoven.
Die Teilnehmer
- 2024 kamen fünf Streichquartettensembles, dazu zwei Dozenten. Nur der eingeplante Festredner, der Brahms-Fachmann und Lübecker Musikhochschulprofessor Wolfgang Sandberger, musste aus Krankheitsgründen absagen. Die Workshop-Leiterin Natasha Loges, Professorin an der Freiburger Musikhochschule, kam zum ersten Mal nach Heidelberg. Oliver Wille, gleichfalls Hochschullehrer ist bereits seit 2008 dabei.
- Unter den vertretenen Ensembles war das spanische Cuarteto Quiroga das mit Abstand älteste und renommierteste. Die anderen sind teilweise noch nicht mit ihren Studien fertig: das Quatuor Agate (Frankreich), das Arete Quartet (Südkorea), das NOVO Quartet (Dänemark) sowie das Sevcik Quartet (Tschechien).
So gingen seinem ersten Streichquartett von 1873 - 40 Jahre alt war Brahms da schon - gut 20 abgebrochene Versuche oder Vorstudien voraus. Diesen Aspekt beleuchtet auch die Brahms-Fachfrau Natasha Loges in einem der Workshops auf dem Heidelberger Festival. Sie stammt aus einer indischen Familie, ist zum Teil in Kuwait aufgewachsen und an edlen Londoner Adressen ausgebildet worden. Die geläufigen „postkolonialen“ Thesen und Bestrebungen sind ihr nicht fremd, sie lässt sich durchaus als Vertreterin der „Wokeness“ in der Musikologie bezeichnen. Alten weißen Männern gegenüber zeigt sich Loges also eher misstrauisch.
Im 19. Jahrhundert waren Streichquartette in Hauskonzerten von Laien zu erleben
Als Forschungsschwerpunkt hat sie sich gleichwohl den Komponisten mit dem längsten grauen Bart erwählt (wie die bekannten Brahms-Porträts aus späten Lebensjahren illustrieren). Loges hat diverse Bücher über ihren Lieblingsgegenstand verfasst, darunter eines zu dem Thema „Brahms: Zuhause und auf der Konzertbühne“. Auch das berührt sie auf dem Heidelberger Workshop. Es geht darum, dass im 19. Jahrhundert, als es den Konzertbetrieb von heute noch nicht gab, Streichquartette häufig nur in Hauskonzerten zu erleben waren. Aufgeführt von ehrgeizigen Laien.
Die Linie soll von Brahms zu Schönberg gehen
Die bei Brahms mit seiner „Virtuosität des meisterhaften Akademikers“ - wie der berühmte Pianist Glenn Gould einmal geschrieben hat - indessen oft an ihre Grenzen stießen. Überdies gibt es ja auch den wirkungsstarken Aufsatz Arnold Schönbergs aus dem Jahre 1933: „Brahms, der Fortschrittliche“. Dieser geistert heute noch durch jedes zweite deutsche Feuilleton und möchte darlegen, dass ein Entwicklungsstrang direkt von Brahms zu Schönberg führt. Zur Avantgarde. Natürlich diente das auch Schönbergs Selbstrechtfertigung. Doch das Prinzip der sich entwickelnden Variation, der Kunst, aus winzigen Motivpartikeln eine ganze Welt zu generieren, konnte Schönberg ziemlich überzeugend nachweisen. Vor allem in den Streichquartetten Brahms’.
Dem ist Oliver Wille auf der Spur, der zweite Workshop-Leiter dieses Festivals. Und Wille fragt auch: Was bedeutet „typisch Brahms“? Die Antwort fällt sehr detailliert aus, das im Alter recht gesetzte Publikum, das in die Alte Heidelberger PH gekommen ist, muss noch einmal die Schulbank drücken und sich über Sub- und Doppeldominante unterrichten lassen. Aber Wille kann auch plastisch werden, fast poetisch, denn er spricht über das dritte Streichquartett von Brahms, ein Werk von fast ein wenig ungewohnter Heiterkeit, Gelöstheit. Komponiert in Ziegelhausen (damals selbstständig, heute zu Heidelberg gehörend). „Typisch Brahms“ würde Workshop-Leiter Wille insbesondere den zweiten Satz nennen, ein pastorales, singendes Andante. Das sei „wie ein Blick über den Neckar“. Der vom Philosophenweg aus unternommen sein könnte. Denn reflektiert ist alles, was Brahms tut. Und wenn er im Eröffnungssatz das „Jagdquartett“ von Mozart aufgreift, ist das stets ein wissendes Zitieren. Das mit raffinierten „Manipulationen“ aufwartet.
Brahms war eben auch - und vielleicht hauptsächlich - Romantiker
Neben den Brahms-Quartetten werden an vier Tagen und bei einem Ticketabsatz von im Ganzen immerhin 3700 Stück auch die Quartette Schumanns aufgeführt. Und früher Haydn - den Brahms schätzte und als Autograph besaß. Auch eine von Brahms völlig unbeleckte Zone gibt es: in der Langen Nacht am Samstag. Was die Interpreten angeht, ist das spanische Quiroga Streichquartett hervorzuheben: weil es im Vergleich zu den Kollegen und Kolleginnen mehr Reife aufzubieten hat. Allein aus Altersgründen. Das zeigt sich bereits im ersten Brahms-Quartett, wo sich die Spanier dem Lyrismus in den Binnensätzen restlos hingeben. Aus Motiven werden Emotionen. Brahms war eben auch - und vielleicht hauptsächlich - Romantiker.
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