Heidelberg. „Seit zwei Jahren schreibe ich so gut wie gar nichts mehr“, seufzt Nora Gomringer. Nur Auftragsarbeiten erledige sie noch. Vor neuen eigenen Gedichten aber schrecke sie vorerst zurück, und eine „wirtschaftlich vergebliche Beschäftigung“ sei das Verfassen solcher kleinen Sprachkunstwerke ohnehin. Bekenntnishaft wirkt einiges, was sie an diesem Abend in der Alten Heidelberger Universitäts-Aula zu Protokoll gibt, zu Beginn ihrer Poetikdozentur. Der Germanist Dirk Werle hat zuvor in einer kurzen Einführung das Publikum damit gelockt, dass Gomringers Gedichte „Spaß machen“, durchaus von Pop und Jazz beeinflusst seien und sich somit als „gut zugänglich“ erweisen würden.
Trauerphase ohne Ende
Was auch alles zutrifft. Doch zugleich befinde sie sich eben noch in einer „Trauerphase“, wie sie selbst berichtet. Nach dem Tod der Mutter Nortrud Gomringer Ende 2020. Sie war Germanistin und (nicht nur) Lektorin ihrer Tochter. Mit den Grundbeschäftigungen „Komma-Setzen, Kochen und Kritik“, wie diese stabreimt. Nora Gomringer ist Schweizerin und Deutsche, aufgewachsen in der oberfränkischen Provinz, in Wurlitz, einem Weiler, der damals mehr Rindviecher als Menschen zählte. Die Familie war wegen des Vaters dort gestrandet: Eugen Gomringer, von Haus aus Schweizer Staatsbürger, brachte gute Design nach Deutschland, lehrte an der Düsseldorfer Kunstakademie (die ein gewisser Joseph Beuys aufmischte), aber war auch Chefberater für den ziemlich edlen Porzellanhersteller Rosenthal in Bayern.
Poetikdozentin pflegt ihren Vater
Nora Gomringer nennt ihren Vater einen „Mann der Wirtschaft, der Gedichte schrieb“ und dabei auf das „Wohldesign der Schriften“ achtete. Inzwischen ist er 98 Jahre alt, die Tochter pflegt ihn - was zu ihrer „Trauerphase“ zweifelsohne beiträgt. Aber in der Zeit um 1950 wurde Eugen Gomringer zu einem Mann des Aufbruchs und zum Mitbegründer der „Konkreten Poesie“.
Nora Gomringer
- Nora Gomringer ist die Tochter von Nortrud und Eugen Gomringer, einem Mitbegründer der „Konkreten Poesie“.
- Sie ist eine renommierte Dichterin und ehemalige Slam-Poetin, die auch einen Deutschen Meisterinnen-Titel in dieser Disziplin errungen hat.
- In ihrer Poetikdozentur an der Heidelberger Universität bietet sie Einblicke in den Schreibprozess.
- Gomringer wird zwei weitere Vorlesungen halten: am 10. und 17. Juli, jeweils um 19 Uhr, im Hörsaal 13 in der Neuen Universität. Bei freiem Eintritt.
In einer Zeit also, als man nach Auschwitz streng genommen kein Gedicht mehr schreiben durfte. Nur problembewusste Prosa. Gomringers „Konkrete Poesie“ strebte das vom syntaktischen Zusammenhang befreite Wort an und betonte auch die Materialität der Schrift, die Optik und das Sprachbild. Eines dieser Bilder trägt die Tochter als Tattoo auf ihrem Unterarm.
Nora Gomringer huldigt ihrem Vater
Man denkt sich, dass in der Familie Gomringer die Freiheit der Berufswahl eingeschränkt sein musste. Doch es war wohl nicht primär der viel beschäftigte, häufig verreiste Vater, der das lyrische Talent der Tochter förderte. Und nicht einmal die Mutter - der sie in der Heidelberger Vorlesung auf vielfältige Weise huldigt. Eher nennen müsste man wohl einen Buchhändler. Und eine Pianistin, die ihr klarmachte, wie gut Musik und Text zusammenpassen können. Beide seien mittlerweile auch schon tot. Die „Trauerphase“ nimmt kein Ende.
Ihre Lust an Inszenierung und Performance hat sich Gomringer gleichwohl bewahrt: „I Sing The Body Electric“ trägt sie in der Alten Aula vor, nach der berühmten Textvorlage von Walt Whitman. Und sie singt tatsächlich, mit einer sehr ordentlichen Stimme - was ihr Szenenbeifall einbringt. Neben diesem musikalischen Aspekt von Lyrik geht es Gomringer indessen immer um den optischen, da mag der Einfluss ihres Vaters durchaus eine Rolle spielen. Etwa wenn sie Fotos macht, beim Frauenarzt oder am Frühstückstisch, um jene Orte zu verewigen, wo ihr der Text in einer ersten, ungeschminkten Rohfassung „erschienen“ ist.
Zwischen Ernst und Parodie
In ihrem Zyklus „Monster - Morbus - Moden“ in drei Bänden hat sie üppige Illustrationen eingebunden und im Ganzen sehr auf gute Sichtbarkeit geachtet. So ein zarter Lyrikband kann leicht verloren gehen, „Gomringer“ wird im Verkaufsregal der Händler schließlich kurz nach Goethe und nur knapp vor Heine einsortiert.
„Monster - Morbus - Moden“ gibt sich als moderne Anthropologie. In „Morbus“ etwa geht es darum, dass jeder Lebenslauf auch eine Krankenakte ist. Es gibt ein Karies-Gedicht und eines über Depression, „das große Schweigen“, und die Tonlage ist manchmal schon ein bisschen ernst. Doch völlig düster ist sie eben auch nicht.
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Welches Spiel spielt das Gedicht? Auf diese Frage, findet Gomringer, sollten sich Rezipientinnen und Rezipienten ihrer Texte schon ein wenig einlassen. Wie steht sie da zu den Heroen ihrer Gattung, aus den Zeiten vor gut 100 Jahren, als die Lyriker noch „Dichter“ waren, mit gebieterischem Tonfall und den großen Gesten eines Welterklärers auftraten? Mit Vorgängern wie Rilke und George? Sind das Ihre Antipoden?, fragen wir sie. Nicht unbedingt. An Rilke etwa schätze sie die einzigartig hohe Musikalität der Sprache. Doch natürlich nehme sie sich auch die Freiheit, ihn zu parodieren.
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